Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_363.001 pgo_363.005 pgo_363.001 pgo_363.005 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0385" n="363"/><lb n="pgo_363.001"/> der sich um theologische Fragen nicht kümmert, die heidnische und <lb n="pgo_363.002"/> die christliche Sagenwelt. Einen ähnlichen exotischen Stoff behandelte der <lb n="pgo_363.003"/> spanische Epiker <hi rendition="#g">d'Erzilla</hi> in seiner „<hi rendition="#g">Araucana,</hi>“ die Besiegung der <lb n="pgo_363.004"/> Rebellen von Arauko an der Küste von <hi rendition="#g">Chili</hi> durch die Spanier.</p> <p><lb n="pgo_363.005"/> Die neue Zeit sucht vergebens nach einer Form für das <hi rendition="#g">historische <lb n="pgo_363.006"/> Epos,</hi> das dennoch eine dichterische Nothwendigkeit ist und durch den <lb n="pgo_363.007"/> historischen Roman nicht ersetzt werden kann. <hi rendition="#g">Voltaire,</hi> der in seiner <lb n="pgo_363.008"/> „<hi rendition="#g">Henriade</hi>“ den Homer und Virgil erreichen wollte, erreichte kaum <lb n="pgo_363.009"/> den <hi rendition="#g">Lucan,</hi> dem er durch die Wahl eines nationalen Stoffes aus einer <lb n="pgo_363.010"/> Zeit der Bürgerkriege verwandt ist. Seine allegorische Maschinerie <lb n="pgo_363.011"/> macht einen nüchternen Eindruck; Erfindungen, wie die Reise Heinrich's <lb n="pgo_363.012"/> V. zu Elisabeth, befremden als unhistorisch; der Palast der Schicksale, <lb n="pgo_363.013"/> der Anblick der Thronfolger Heinrich's, erinnern an den Besuch des <lb n="pgo_363.014"/> Aeneas in der Unterwelt und die Prophezeiungen des Anchises. Doch <lb n="pgo_363.015"/> sind einzelne Schilderungen, wie die der Bartholomäusnacht, lebendig — <lb n="pgo_363.016"/> und die Feier der Toleranz im geöffneten Himmelreich entspricht dem <lb n="pgo_363.017"/> Zeitalter der Aufklärung. Glover's „<hi rendition="#g">Leonidas</hi>“ ist einfach kräftig, <lb n="pgo_363.018"/> aber ohne Bedeutung; ebenso wie die „<hi rendition="#g">Kolumbiade</hi>“ der Madame <lb n="pgo_363.019"/> du Bocage. Neuere epische Versuche, wie die Napoleonischen Gedichte <lb n="pgo_363.020"/> von <hi rendition="#g">Barthélemy</hi> und <hi rendition="#g">Méry, Pyrker's</hi> „Tunisias“ und „Rudolfias,“ <lb n="pgo_363.021"/> <hi rendition="#g">Scherenberg's</hi> „Waterloo“ und „Leuthen,“ denen sich mein <lb n="pgo_363.022"/> „<hi rendition="#g">Carlo Zeno</hi>“ und „<hi rendition="#g">Sebastopol</hi>“ anreiht, scheinen ihre Bedeutung <lb n="pgo_363.023"/> darin zu finden, daß sie als Studien des <hi rendition="#g">epischen Styles</hi> betrachtet <lb n="pgo_363.024"/> werden können, der sich zu reiner und plastischer Objektivität aus den <lb n="pgo_363.025"/> episch-lyrischen Mischungen <hi rendition="#g">Byron's, Lenau's, Meißner's</hi> herauszuarbeiten <lb n="pgo_363.026"/> sucht. Dieser epische Styl würde dann in einem modernen <lb n="pgo_363.027"/> Kunstepos, wie es Schiller vorschwebte und das vorzugsweise ein <hi rendition="#g">historisches</hi> <lb n="pgo_363.028"/> sein würde, der Träger der Dichtung werden. Die epische Tradition <lb n="pgo_363.029"/> des Kunstepos von <hi rendition="#g">Virgil</hi> her, die sich durch <hi rendition="#g">Tasso, Camoëns, <lb n="pgo_363.030"/> Voltaire</hi> u. A. hindurchzieht und eine etwas blasse Charakteristik, eine <lb n="pgo_363.031"/> abstrakte Göttermaschinerie und die stereotype Wiederkehr derselben pathetischen <lb n="pgo_363.032"/> und prophetischen Situationen im Gefolge hat, muß aufgegeben, <lb n="pgo_363.033"/> mit einem neuen epischen Schema vertauscht werden. Wie <hi rendition="#g">Tasso</hi> die <lb n="pgo_363.034"/> Aventuren der Rittergedichte in sein Epos aufnahm: so verträgt das <lb n="pgo_363.035"/> modern-historische Epos die novellistische Episode, die <hi rendition="#g">spannend</hi> sein </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [363/0385]
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der sich um theologische Fragen nicht kümmert, die heidnische und pgo_363.002
die christliche Sagenwelt. Einen ähnlichen exotischen Stoff behandelte der pgo_363.003
spanische Epiker d'Erzilla in seiner „Araucana,“ die Besiegung der pgo_363.004
Rebellen von Arauko an der Küste von Chili durch die Spanier.
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Die neue Zeit sucht vergebens nach einer Form für das historische pgo_363.006
Epos, das dennoch eine dichterische Nothwendigkeit ist und durch den pgo_363.007
historischen Roman nicht ersetzt werden kann. Voltaire, der in seiner pgo_363.008
„Henriade“ den Homer und Virgil erreichen wollte, erreichte kaum pgo_363.009
den Lucan, dem er durch die Wahl eines nationalen Stoffes aus einer pgo_363.010
Zeit der Bürgerkriege verwandt ist. Seine allegorische Maschinerie pgo_363.011
macht einen nüchternen Eindruck; Erfindungen, wie die Reise Heinrich's pgo_363.012
V. zu Elisabeth, befremden als unhistorisch; der Palast der Schicksale, pgo_363.013
der Anblick der Thronfolger Heinrich's, erinnern an den Besuch des pgo_363.014
Aeneas in der Unterwelt und die Prophezeiungen des Anchises. Doch pgo_363.015
sind einzelne Schilderungen, wie die der Bartholomäusnacht, lebendig — pgo_363.016
und die Feier der Toleranz im geöffneten Himmelreich entspricht dem pgo_363.017
Zeitalter der Aufklärung. Glover's „Leonidas“ ist einfach kräftig, pgo_363.018
aber ohne Bedeutung; ebenso wie die „Kolumbiade“ der Madame pgo_363.019
du Bocage. Neuere epische Versuche, wie die Napoleonischen Gedichte pgo_363.020
von Barthélemy und Méry, Pyrker's „Tunisias“ und „Rudolfias,“ pgo_363.021
Scherenberg's „Waterloo“ und „Leuthen,“ denen sich mein pgo_363.022
„Carlo Zeno“ und „Sebastopol“ anreiht, scheinen ihre Bedeutung pgo_363.023
darin zu finden, daß sie als Studien des epischen Styles betrachtet pgo_363.024
werden können, der sich zu reiner und plastischer Objektivität aus den pgo_363.025
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sucht. Dieser epische Styl würde dann in einem modernen pgo_363.027
Kunstepos, wie es Schiller vorschwebte und das vorzugsweise ein historisches pgo_363.028
sein würde, der Träger der Dichtung werden. Die epische Tradition pgo_363.029
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Voltaire u. A. hindurchzieht und eine etwas blasse Charakteristik, eine pgo_363.031
abstrakte Göttermaschinerie und die stereotype Wiederkehr derselben pathetischen pgo_363.032
und prophetischen Situationen im Gefolge hat, muß aufgegeben, pgo_363.033
mit einem neuen epischen Schema vertauscht werden. Wie Tasso die pgo_363.034
Aventuren der Rittergedichte in sein Epos aufnahm: so verträgt das pgo_363.035
modern-historische Epos die novellistische Episode, die spannend sein
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