pgo_395.001 die Hauptquelle der italienischen Novellistik, welche die ersten und pgo_395.002 bedeutendsten Muster dieser epischen Nebenform enthält. Mit den pgo_395.003 Märchen von Tausend und Einer Nacht, dem Papageienbuch haben diese pgo_395.004 italienischen Novellenbücher eine bestimmte Einkleidung gemein, indem pgo_395.005 eine Situation vorausgeschildert wird, aus welcher jene Erzählungen pgo_395.006 fließen. Diese Situation ist in den sieben weisen Meistern, in dem pgo_395.007 Märchen von Tausend und Einer Nacht bekannt. Aehnlich läßt Boccacciopgo_395.008 im "Decamerone" seine Novellen in einem Kreise von Herren und pgo_395.009 Damen erzählen, welche vor der Pest aus Florenz geflohn. Noch abenteuerlicher pgo_395.010 ist die Einkleidung in dem "Pecorone" des Ser Giovanni,pgo_395.011 wo der Geliebte einer Nonne, der Mönch und Kaplan geworden, um in pgo_395.012 ihrer Nähe zu sein, und diese selbst im Sprechzimmer des Klosters sich pgo_395.013 fünfundzwanzig Abende lang diese Novellen erzählen. Ebenso unglücklich pgo_395.014 ist die Einleitung zu den "Diporti" des Girolamo Parabosco,pgo_395.015 der uns erzählt, wie siebenzehn Herren fischen gehn wollen, sich aber, weil pgo_395.016 das Wetter zu schlecht, zusammensetzen und Geschichten erzählen. Cinthiopgo_395.017 läßt in seinen "Hecatommiti" zehn Frauen und zehn Herren der pgo_395.018 Plünderung Roms entfliehen, nach Marseille segeln und sich unterwegs pgo_395.019 Novellen erzählen. Das Muster des Boccaccio ahmte bekanntlich auch pgo_395.020 Chaucer in seinen "Canterbury tales" nach, indem er diese Geschichten pgo_395.021 von Pilgern, bei Gelegenheit der alljährlichen Frühjahrswanderung nach pgo_395.022 dem Grab des Märtyrers Thomas Bekket in Canterbury, Abends pgo_395.023 bei Tisch erzählen läßt. Neuerdings sind Tieck im "Phantasus," dem pgo_395.024 romantischen Märchenbuch, und Goethe in den mehr novellistischen pgo_395.025 "Unterhaltungen der Ausgewanderten" diesen Beispielen gefolgt. Und pgo_395.026 in der That eignet sich ein solcher erzählender Faden trefflich zur Anreihung pgo_395.027 einer größeren Zahl von Märchen und Novellen. Das Märchenpgo_395.028 ist eine phantastische Erzählung, welche nur dem freien Fluge der pgo_395.029 Phantasie folgt und die Schranken der Realität nicht achtet. Wie die pgo_395.030 Sage aus der Auflösung des Mythos hervorgegangen, unterscheidet es pgo_395.031 sich von dieser durch die gänzliche Unbestimmtheit in Bezug auf seine pgo_395.032 Helden, auf Ort und Zeit. Die Sage vollzieht den Proceß der Entgötterung, pgo_395.033 indem sie die Götter in Halbgötter, Heroen und wunderbare pgo_395.034 Helden verwandelt, aber dabei die bestimmte That, den bestimmten pgo_395.035 Namen festhält. Das Märchen rettet dagegen die Ungebundenheit des
pgo_395.001 die Hauptquelle der italienischen Novellistik, welche die ersten und pgo_395.002 bedeutendsten Muster dieser epischen Nebenform enthält. Mit den pgo_395.003 Märchen von Tausend und Einer Nacht, dem Papageienbuch haben diese pgo_395.004 italienischen Novellenbücher eine bestimmte Einkleidung gemein, indem pgo_395.005 eine Situation vorausgeschildert wird, aus welcher jene Erzählungen pgo_395.006 fließen. Diese Situation ist in den sieben weisen Meistern, in dem pgo_395.007 Märchen von Tausend und Einer Nacht bekannt. Aehnlich läßt Boccacciopgo_395.008 im „Decamerone“ seine Novellen in einem Kreise von Herren und pgo_395.009 Damen erzählen, welche vor der Pest aus Florenz geflohn. Noch abenteuerlicher pgo_395.010 ist die Einkleidung in dem „Pecorone“ des Ser Giovanni,pgo_395.011 wo der Geliebte einer Nonne, der Mönch und Kaplan geworden, um in pgo_395.012 ihrer Nähe zu sein, und diese selbst im Sprechzimmer des Klosters sich pgo_395.013 fünfundzwanzig Abende lang diese Novellen erzählen. Ebenso unglücklich pgo_395.014 ist die Einleitung zu den „Diporti“ des Girolamo Parabosco,pgo_395.015 der uns erzählt, wie siebenzehn Herren fischen gehn wollen, sich aber, weil pgo_395.016 das Wetter zu schlecht, zusammensetzen und Geschichten erzählen. Cinthiopgo_395.017 läßt in seinen „Hecatommiti“ zehn Frauen und zehn Herren der pgo_395.018 Plünderung Roms entfliehen, nach Marseille segeln und sich unterwegs pgo_395.019 Novellen erzählen. Das Muster des Boccaccio ahmte bekanntlich auch pgo_395.020 Chaucer in seinen „Canterbury tales“ nach, indem er diese Geschichten pgo_395.021 von Pilgern, bei Gelegenheit der alljährlichen Frühjahrswanderung nach pgo_395.022 dem Grab des Märtyrers Thomas Bekket in Canterbury, Abends pgo_395.023 bei Tisch erzählen läßt. Neuerdings sind Tieck im „Phantasus,“ dem pgo_395.024 romantischen Märchenbuch, und Goethe in den mehr novellistischen pgo_395.025 „Unterhaltungen der Ausgewanderten“ diesen Beispielen gefolgt. Und pgo_395.026 in der That eignet sich ein solcher erzählender Faden trefflich zur Anreihung pgo_395.027 einer größeren Zahl von Märchen und Novellen. Das Märchenpgo_395.028 ist eine phantastische Erzählung, welche nur dem freien Fluge der pgo_395.029 Phantasie folgt und die Schranken der Realität nicht achtet. Wie die pgo_395.030 Sage aus der Auflösung des Mythos hervorgegangen, unterscheidet es pgo_395.031 sich von dieser durch die gänzliche Unbestimmtheit in Bezug auf seine pgo_395.032 Helden, auf Ort und Zeit. Die Sage vollzieht den Proceß der Entgötterung, pgo_395.033 indem sie die Götter in Halbgötter, Heroen und wunderbare pgo_395.034 Helden verwandelt, aber dabei die bestimmte That, den bestimmten pgo_395.035 Namen festhält. Das Märchen rettet dagegen die Ungebundenheit des
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/417>, abgerufen am 22.11.2024.
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