Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_412.001 Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006 Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007 Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008 Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009 Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog; pgo_412.010 Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012 pgo_412.016Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013 Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte. pgo_412.014 Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015 Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes. (Nach Voß.) pgo_412.017 pgo_412.001 Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006 Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007 Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008 Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009 Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog; pgo_412.010 Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012 pgo_412.016Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013 Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte. pgo_412.014 Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015 Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes. 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Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der <lb n="pgo_412.020"/> Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. <lb n="pgo_412.021"/> „Für den Römer,“ sagt Schiller, „hat der Richterspruch des ersten Brutus, <lb n="pgo_412.022"/> der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen <lb n="pgo_412.023"/> und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, <lb n="pgo_412.024"/> folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der <lb n="pgo_412.025"/> besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen <lb n="pgo_412.026"/> zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher <lb n="pgo_412.027"/> Annahme der letzteren fähig sein.“ Der moderne Dichter, der <lb n="pgo_412.028"/> heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; <lb n="pgo_412.029"/> denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus <lb n="pgo_412.030"/> Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, <lb n="pgo_412.031"/> verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten <lb n="pgo_412.032"/> frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus <lb n="pgo_412.033"/> seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: <lb n="pgo_412.034"/> der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen <lb n="pgo_412.035"/> und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese „Gleichartigkeit“ </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [412/0434]
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Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert pgo_412.002
sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner „Epistel an die Pisonen“ pgo_412.003
(114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst pgo_412.004
eine ethische:
pgo_412.005
Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006
Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007
Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008
Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009
Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;
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dann aber eine historische:
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Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012
Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013
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Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015
Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.
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(Nach Voß.)
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Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit pgo_412.018
einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen pgo_412.019
ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der pgo_412.020
Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. pgo_412.021
„Für den Römer,“ sagt Schiller, „hat der Richterspruch des ersten Brutus, pgo_412.022
der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen pgo_412.023
und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, pgo_412.024
folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der pgo_412.025
besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen pgo_412.026
zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher pgo_412.027
Annahme der letzteren fähig sein.“ Der moderne Dichter, der pgo_412.028
heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; pgo_412.029
denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus pgo_412.030
Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, pgo_412.031
verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten pgo_412.032
frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus pgo_412.033
seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: pgo_412.034
der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen pgo_412.035
und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese „Gleichartigkeit“
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