pgo_436.001 wird. Die Macht und Größe der Leidenschaft aber, die sie beherrscht, pgo_436.002 bildet ein Moment der tragischen Erhebung, fesselt uns dämonisch in die pgo_436.003 Kreise ihres Strebens und läßt uns ihrem Untergange noch gerührte pgo_436.004 Theilnahme schenken. Je moderner, vielseitiger, innerlicher der Charakter pgo_436.005 wird, desto mehr kann auch seine Schuld sich gleichsam in das tiefste pgo_436.006 Gehäuse seines individuellen Lebens zurückziehn; sie kann, statt in thatkräftiger pgo_436.007 Energie, gerade im Ueberwiegen der Reflexion, im Mangel an pgo_436.008 Thatkraft bestehn, wie im "Hamlet," oder in einer mehr passiven Eigenschaft, pgo_436.009 im hingebenden Vertrauen und unerschütterlicher Arglosigkeit, wie pgo_436.010 im "Egmont." Ja das Tragische kann ganz in das innere Gebiet des pgo_436.011 Gedankens verlegt, ein einzelner Charakter zum Repräsentanten der denkenden pgo_436.012 und ringenden Menschheit werden, wie "Faust" und "Manfred." pgo_436.013 Jn allen diesen Tragödieen des einfachen Konfliktes ist der Verlauf, daß pgo_436.014 der Held, seinem Charakter und dem Pathos folgend, das ihn beherrscht, pgo_436.015 gegen die Ordnung und die Gesetze der sittlichen Welt verstößt, diese pgo_436.016 gegen sich aufreizt, bis die gestörte Harmonie durch seinen Untergang pgo_436.017 wiederhergestellt ist. Der ehrgeizige Macbeth ermordet seinen König, pgo_436.018 seinen Waffenbruder Banko, Alle, welche nach der Usurpation seinen Pfad pgo_436.019 kreuzen; er wird zum Tyrannen Schottlands, doch die Verletzung der pgo_436.020 menschlichen und göttlichen Gesetze durch seinen Untergang gesühnt. Uns pgo_436.021 aber fesselt an ihm der dämonische Zug, welcher den Eingebungen der pgo_436.022 Schicksalsschwestern folgt, eine wilde Energie, welche den nicht verstummten pgo_436.023 Zweifel des Gewissens in konsequenten Thaten übertäubt, und eine pgo_436.024 Heldenkraft, welche sich muthig dem hereinbrechenden Verhängniß entgegengestellt. pgo_436.025 Der Ehrgeiz, aufgestachelt durch die Zuflüsterungen der pgo_436.026 Lady, treibt ihn zum Verbrechen; es ist trotz dieses äußern Anstoßes die pgo_436.027 innere Schwerkraft seines Charakters, die ihn dem Abgrunde zuführt.
pgo_436.028 Die zweite Form der sittlichen Kollision stellt das Tragische auf pgo_436.029 einer noch höheren Stufe dar. Jn den Tragödieen der Situationpgo_436.030 beruht das Tragische auf einem Kampf gleichberechtigter sittlicher Mächte. pgo_436.031 Wenn der Held der einen gehorcht, verletzt er die andere -- nur sein pgo_436.032 Untergang stellt das harmonische Gleichgewicht wieder her. So verstößt pgo_436.033 Antigone gegen das Gesetz des Staates, indem sie dem Gebote der Pietät pgo_436.034 folgt und ihren Bruder beerdigt! Sie fällt der bestehenden Ordnung, pgo_436.035 dem äußern Gesetz zum Opfer als Verkündigerin des höheren, das in
pgo_436.001 wird. Die Macht und Größe der Leidenschaft aber, die sie beherrscht, pgo_436.002 bildet ein Moment der tragischen Erhebung, fesselt uns dämonisch in die pgo_436.003 Kreise ihres Strebens und läßt uns ihrem Untergange noch gerührte pgo_436.004 Theilnahme schenken. Je moderner, vielseitiger, innerlicher der Charakter pgo_436.005 wird, desto mehr kann auch seine Schuld sich gleichsam in das tiefste pgo_436.006 Gehäuse seines individuellen Lebens zurückziehn; sie kann, statt in thatkräftiger pgo_436.007 Energie, gerade im Ueberwiegen der Reflexion, im Mangel an pgo_436.008 Thatkraft bestehn, wie im „Hamlet,“ oder in einer mehr passiven Eigenschaft, pgo_436.009 im hingebenden Vertrauen und unerschütterlicher Arglosigkeit, wie pgo_436.010 im „Egmont.“ Ja das Tragische kann ganz in das innere Gebiet des pgo_436.011 Gedankens verlegt, ein einzelner Charakter zum Repräsentanten der denkenden pgo_436.012 und ringenden Menschheit werden, wie „Faust“ und „Manfred.“ pgo_436.013 Jn allen diesen Tragödieen des einfachen Konfliktes ist der Verlauf, daß pgo_436.014 der Held, seinem Charakter und dem Pathos folgend, das ihn beherrscht, pgo_436.015 gegen die Ordnung und die Gesetze der sittlichen Welt verstößt, diese pgo_436.016 gegen sich aufreizt, bis die gestörte Harmonie durch seinen Untergang pgo_436.017 wiederhergestellt ist. Der ehrgeizige Macbeth ermordet seinen König, pgo_436.018 seinen Waffenbruder Banko, Alle, welche nach der Usurpation seinen Pfad pgo_436.019 kreuzen; er wird zum Tyrannen Schottlands, doch die Verletzung der pgo_436.020 menschlichen und göttlichen Gesetze durch seinen Untergang gesühnt. Uns pgo_436.021 aber fesselt an ihm der dämonische Zug, welcher den Eingebungen der pgo_436.022 Schicksalsschwestern folgt, eine wilde Energie, welche den nicht verstummten pgo_436.023 Zweifel des Gewissens in konsequenten Thaten übertäubt, und eine pgo_436.024 Heldenkraft, welche sich muthig dem hereinbrechenden Verhängniß entgegengestellt. pgo_436.025 Der Ehrgeiz, aufgestachelt durch die Zuflüsterungen der pgo_436.026 Lady, treibt ihn zum Verbrechen; es ist trotz dieses äußern Anstoßes die pgo_436.027 innere Schwerkraft seines Charakters, die ihn dem Abgrunde zuführt.
pgo_436.028 Die zweite Form der sittlichen Kollision stellt das Tragische auf pgo_436.029 einer noch höheren Stufe dar. Jn den Tragödieen der Situationpgo_436.030 beruht das Tragische auf einem Kampf gleichberechtigter sittlicher Mächte. pgo_436.031 Wenn der Held der einen gehorcht, verletzt er die andere — nur sein pgo_436.032 Untergang stellt das harmonische Gleichgewicht wieder her. So verstößt pgo_436.033 Antigone gegen das Gesetz des Staates, indem sie dem Gebote der Pietät pgo_436.034 folgt und ihren Bruder beerdigt! Sie fällt der bestehenden Ordnung, pgo_436.035 dem äußern Gesetz zum Opfer als Verkündigerin des höheren, das in
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/458>, abgerufen am 22.11.2024.
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