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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Harmonie der Sprache bei weitem überlegen; die Schauer der Andacht pgo_451.002
und Grausamkeit, die Geheimnisse des Märtyrerthums erhob er in eine pgo_451.003
höhere Sphäre; aber er verfiel dabei in einen grüblerischen Mysticismus, pgo_451.004
der sich nicht blos in den Aufschwung des verklärten Gemüthes, sondern pgo_451.005
auch in eine traumhafte Weltanschauung verlor, welcher alle Gestalten pgo_451.006
des Lebens zu Schatten zerflossen. "Der standhafte Prinz" und "das Leben pgo_451.007
ein Traum" vertreten diese beiden Pole des Mysticismus. Auch Calderon pgo_451.008
hat zahlreiche historische Tragödieen geschrieben, einen "Coriolan," eine pgo_451.009
"Zenobia," "Semiramis," einen "Scipio," "Maccabäus," "Alexander pgo_451.010
den Großen" -- aber es fehlte dieser spanischen Romantik, welche das pgo_451.011
Historische mit abenteuerlichen Erfindungen durchflocht und mit Ergüssen pgo_451.012
des trunkenen Gefühles zersetzte, die Größe und Würde einer historischen pgo_451.013
Weltanschauung, welche in den Krisen der Geschichte den Herzschlag des pgo_451.014
Weltgeistes zu vernehmen vermag und die Motive der großen Staatsaktionen pgo_451.015
in ihrer Einfachheit zu adeln versteht. Jm Einklange mit dieser pgo_451.016
romantischen Behandlung der Geschichte steht die Sprache, die nur hin pgo_451.017
und wieder mit dramatischer Energie aufblitzt, gewöhnlich aber in üppige pgo_451.018
und glänzende Schilderungen und breit ausgesponnene Reflexionen verstrickt pgo_451.019
ist und sich von dem einförmigen Pathos der vierfüßigen Trochäen pgo_451.020
nur befreit, um sich in die lyrische Breite der ottave rime und selbstgefälligen pgo_451.021
Sonette zu ergießen.

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Jm Gegensatz zur spanischen Tragödie steht die altenglische auf dem pgo_451.023
Boden des Protestantismus, kennt kein anderes Märtyrerthum, als pgo_451.024
das der Leidenschaft und des Gedankens, keine andere Schuld und Verklärung, pgo_451.025
als die eigene That, keinen andern Richter, als das Gewissen. pgo_451.026
Allen Dichtern jener frischen und rührigen Glanzepoche der Elisabeth pgo_451.027
war eine Bühne gemeinsam, welche in ihrer Einfachheit den größten pgo_451.028
scenischen Wechsel gestattete, da die Ausführung ihrer nur durch einen pgo_451.029
Zettel angezeigten Verwandlungen der Phantasie der Zuschauer überlassen pgo_451.030
blieb, gemeinsam die Benutzung historischer, besonders vaterländischer pgo_451.031
und novellistischer Stoffe, die Vorliebe für das Bizarre, Abenteuerliche, pgo_451.032
Grelle und Maaßlose, besonders für kecke Verwickelungen in pgo_451.033
Geschlechtsverhältnissen, eine Komposition in anfangs parallelen, nachher pgo_451.034
konvergirenden Gruppen, eine an kühnen, gehäuften, oft gesuchten Bildern pgo_451.035
reiche Sprache, ebenso zum höchsten pathetischen Aufschwung, wie

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/473>, abgerufen am 22.11.2024.