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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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(Sturm, Sommernachtstraum), in welchem es eine von der aristophanischen pgo_462.002
gänzlich abweichende Gestalt angenommen. Das individuelle pgo_462.003
Geschick als solches hatte in der alten attischen Komödie keinen Werth; pgo_462.004
die Charaktere waren nur Vertreter irgend einer geistigen Richtung, pgo_462.005
welche der Komiker persiflirte. Bei Shakespeare bildet ein persönliches pgo_462.006
Geschick, z. B. Leid und Lust der Liebe, den Mittelpunkt der Handlung, pgo_462.007
in welche die Elementargeister, die Gebilde einer die Natur beseelenden pgo_462.008
Phantasie, mit ihrem heitern Spiel eingreifen. Der Reiz dieses Lustspieles, pgo_462.009
welches der altattischen Komödie, die meistens ganz bestimmte pgo_462.010
Verhältnisse des Staates und der Gesellschaft, des Wissens und der pgo_462.011
Kunst mit keckem Humor verspottete, gerade entgegengesetzt ist, beruht auf pgo_462.012
einer traumhaften Verkettung des menschlichen und elementarischen pgo_462.013
Geschickes, auf einem abenteuerlichen Quodlibet des Menschen und der pgo_462.014
Natur, das aber dennoch in seiner scheinbaren Verwirrung einen sinnvollen pgo_462.015
Grundgedanken spiegelt. So zieht sich z. B. im "Sommernachtstraum" pgo_462.016
durch dies ganze in den duftigsten Aether der Naturlyrik getauchte, pgo_462.017
scheinbar verworrene und verwirrende Treiben, das uns zarte Elfengeister, pgo_462.018
rohe Handwerker, mehrfache Liebesintriguen, magische Liebestränke und pgo_462.019
bizarre Metamorphosen vorführt, als rother Faden die Grundidee, die pgo_462.020
träumerische Launenhaftigkeit der Liebe und ihre elementarisch wirkende pgo_462.021
Gewalt, eine Jdee, die sich ebenso in der wechselnden Stellung der beiden pgo_462.022
Liebespaare zu einander, wie in dem Streit zwischen Oberon und Titania, pgo_462.023
in der durch Blumenzauber bewirkten Verliebtheit der Feeenkönigin pgo_462.024
in den Weber Zettel mit seinem angezauberten Eselskopf und selbst in der pgo_462.025
Hochzeitskomödie von Pyramus und Thisbe, in allen ernsten, heitern, pgo_462.026
burlesken Gruppen des Stückes wiederfindet. Hier ließe sich noch die pgo_462.027
heitere, phantastische Märchenwelt Gozzi's anreihn.

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Unsere neue deutsche Literatur hat mehrfache Anläufe zur Wiedergeburt pgo_462.029
des idealistischen Lustspiels genommen. Wir erwähnen zunächst pgo_462.030
die ironischen Komödieen Ludwig Tieck's, "Zerbino," die "verkehrte pgo_462.031
Welt," den "Fortunatus" u. a., in denen allen sich die literarische Satyre pgo_462.032
des Aristophanes mit Shakespeare's phantasievoller Sinnigkeit vereint. pgo_462.033
Dennoch müssen diese Versuche als verfehlt bezeichnet werden; denn pgo_462.034
zunächst entbehrten sie die Volksthümlichkeit und Bühnenfähigkeit, die pgo_462.035
den Dichtungen des Aristophanes und Shakespeare einen so großen Halt

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/484>, abgerufen am 22.11.2024.