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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe pgo_477.002
Ausnahmen, ein Kunstfest der Auserwählten gewesen? Die poetische Grenzgattung, der pgo_477.003
Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am pgo_477.004
deutlichsten, welch' eine Fülle von Gedanken, von Problemen, von geistigen und gesellschaftlichen pgo_477.005
Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur pgo_477.006
zur Geltung gekommen ist. Und diesen Thatsachen gegenüber können wir uns der Einsicht pgo_477.007
nicht verschließen, daß unsere Literatur in eine neue Epoche getreten, deren erste pgo_477.008
Entwickelungskrankheiten sie bereits glücklich überstanden hat, deren Bedeutung darin pgo_477.009
besteht, eine vollkommenere Versöhnung der Gelehrten- und Volkspoesie anzustreben, pgo_477.010
als unseren Classikern möglich war, und die von ihnen überlieferte Kunstform mit allem pgo_477.011
Reichthum des modernen Lebens zu erfüllen. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf pgo_477.012
allen Gebieten der Kunst und des Wissens die Erbschaft des achtzehnten angetreten; pgo_477.013
aber, weit entfernt, dieselbe zu verschleudern, hat es Capital und Zinsen verdoppelt. pgo_477.014
Freilich stimmt diese Behauptung nicht mit der hypochondrischen Art und Weise überein, pgo_477.015
mit der man sich gewöhnt hat, auf alle neueren literarischen Bestrebungen herabzusehn pgo_477.016
und schon durch dies vornehme Herabsehn seinen hohen Standpunkt an den Tag zu pgo_477.017
legen. Am wenigsten läßt sich die Entwickelung einer Literatur nach den Regeln der pgo_477.018
Dreifelderwirthschaft bestimmen, wie es Gervinus gethan, welcher den Rath ertheilt, pgo_477.019
nun die Poesie brach liegen zu lassen und die Politik zu bearbeiten. Die Ansicht eines pgo_477.020
Einzelnen kann hier, bei aller sonstigen Berechtigung und Befähigung, nicht maaßgebend pgo_477.021
sein, indem sie durch den productiven Drang der Nation und thatsächliche Leistungen pgo_477.022
ihre schlagendste Widerlegung erhält.

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Dem Literarhistoriker der Gegenwart bietet sich eine doppelte Betrachtungs- und pgo_477.024
Darstellungsweise dar: er kann epochenweise den Jnhalt der geistigen Bewegungen pgo_477.025
zusammenfassen und weniger den Entwickelungsgang der einzelnen Autoren berücksichtigen, pgo_477.026
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dem entscheidenden Zeitpunkte darstellt; oder er stellt die Entwickelung der einzelnen pgo_477.028
bedeutsamen Autoren in den Vordergrund, mag sie auch verschiedene Richtungen umfassen; pgo_477.029
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mit den allgemeinen geistigen Strömungen hin. Für die Literaturgeschichte pgo_477.031
der Vergangenheit ist der erste Standpunkt ohne Frage der richtige, weil dort umfangreiche pgo_477.032
Epochen eine in's Große gehende Charakteristik gestatten; doch die Gegenwart pgo_477.033
mißt ihre Epochen nur nach Decennien; die chronologischen Einschnitte sind hier ohne pgo_477.034
Wichtigkeit; die geistigen Richtungen gehen der Zeit nach meistens neben einander her pgo_477.035
und sondern sich nur nach ideellen Gesichtspunkten. Goethe lebte noch, nachdem die pgo_477.036
romantische Schule schon verblüht; Tieck ist noch ein Zeitgenosse der jungdeutschen pgo_477.037
Bestrebungen, der modernen Lyrik und des modernen Drama gewesen. Mit wenigen pgo_477.038
Ausnahmen sind daher im vorliegenden Werke die bedeutenden Autoren wohl dort eingereiht, pgo_477.039
wo der Schwerpunkt ihres geistigen Wirkens zu suchen ist, aber dort auch in pgo_477.040
ihrem ganzen Entwickelungsgang, mag er auch in andere Richtungen übergreifen, pgo_477.041
behandelt worden. Ebenso sind die Uebergänge der einen Richtung in die andere pgo_477.042
weniger in chronologischer Reihenfolge, als nach ihrem begrifflichen Schwerpunkte aufgefaßt. pgo_477.043
Das Vorwiegen des kritischen Elements, das indeß von einer Verzettelung des pgo_477.044
Werkes in einzelne Kritiken wohl zu unterscheiden ist, läßt sich bei der eingehenden Darstellung pgo_477.045
einer kurzen und naheliegenden Epoche, welche keine großen historischen Perspectiven pgo_477.046
gestattet, gewiß rechtfertigen, denn hier sind durch Tradition keine feststehenden pgo_477.047
Gesichtspunkte gegeben; es kommt darauf an, durch Analyse der einzelnen Autoren erst pgo_477.048
ihren geistigen Extract zu gewinnen und, was in ihnen verwandt und gemeinsam ist, pgo_477.049
zur Bezeichnung einer literarischen Richtung zusammenzustellen.

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Die Eintheilung des Werks zeigt zunächst ein auffälliges räumliches Mißverhältniß pgo_477.051
zwischen den einzelnen Abtheilungen, indem die letzte, welche die moderne Richtung pgo_477.052
behandelt, nicht blos fast ein Drittheil des ersten Bandes, sondern auch den ganzen pgo_477.053
zweiten Band umfaßt. Dafür lassen sich gewichtige Entschuldigungsgründe anführen. Die pgo_477.054
ideelle Gliederung des Werks war durch die scharfen geistigen Einschnitte bestimmt, pgo_477.055
welche der Fortgang der deutschen Nationalliteratur in unserem Jahrhundert bedingte. pgo_477.056
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von gegebenen Traditionen zu emancipiren und die Dichtung volksthümlich zu pgo_477.059
machen, verfielen aber dabei in eine chaotische Urpoesie und in die Abhängigkeit von nur

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mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Bühne zugänglich zu machen und stets nur hohe pgo_477.002
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Roman, der für die Aufnahme neuer Stoffe die geräumigste Form bietet, zeigt uns am pgo_477.004
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Verwicklungen und Conflicten seit jener Glanzepoche der deutschen Literatur pgo_477.006
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Dem Literarhistoriker der Gegenwart bietet sich eine doppelte Betrachtungs- und pgo_477.024
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/499>, abgerufen am 22.11.2024.