pgo_035.001 Jn der That steht die Poesie in der Mitte des Universums und wirft, pgo_035.002 wie Wilhelm von Humboldt sagt, nach allen Seiten ihre Strahlen in's pgo_035.003 Unendliche! Sie ist in diesem höchsten Sinne Weltseele, Centrum der pgo_035.004 schöpferischen Empfindung; im kleinsten Bilde, das sie schafft, ist das All pgo_035.005 gegenwärtig -- und gerade hierin unterscheiden sich die großen Dichter pgo_035.006 von den kleinen, die nur Stücke aus dem All herausschneiden und selbst pgo_035.007 die eigene Seele nur stückweise geben. Sie war, im Bunde mit der pgo_035.008 Musik, die erste Kunst und wird die letzte sein!
pgo_035.009 Es ist keine inhaltlose Phantasie, wenn Anastasius Grün behauptet, pgo_035.010 daß erst mit dem letzten Menschen der letzte Dichter von der Erde auswandern pgo_035.011 wird. Jn welche Bahnen auch die Menschheit getrieben wird, pgo_035.012 welche Jnteressen auch das Jahrhundert beherrschen mögen: das ist alles pgo_035.013 nur neuer und reicherer Stoff für den dichterischen Genius, der in pgo_035.014 die bunte Welt die eigene große Seele hineinschaut. Der Mensch bleibt pgo_035.015 ja ewig ihr Mittelpunkt, und erst mit dem Menschen stirbt die Poesie. pgo_035.016 Freilich bedarf es des großen Dichters, den nicht, wie die Scheinpoeten, pgo_035.017 die Aeußerlichkeiten einer neuen Kulturepoche blenden, daß sie sich mit pgo_035.018 ganzer Seele an ihre vergänglichen Jnteressen und Zwecke hingeben, pgo_035.019 sondern der den Faden der ewigen Entwickelung festhält, den die breite pgo_035.020 Prosa der Erscheinung nicht irrt, wenn sie auch gleich einer dichten, dumpfen pgo_035.021 Wolke niederregnet, sondern der gleichsam aus ihren zerrinnenden pgo_035.022 Tropfen mit dem Strahle der ewigen Jdee den Regenbogen der Schönheit pgo_035.023 aufbaut!
pgo_035.024 Diese weitere Auffassung der Poesie, als Seele der Welt und deshalb pgo_035.025 auch Seele jeder Kunst, als die Jdee selbst in ihrem ganzen Reichthum, pgo_035.026 wie sie ein großes Gemüth anschaut und darstellt, möge jetzt wieder dem pgo_035.027 engeren Begriff der Dichtkunst weichen, wie ihn vorher dieser Abschnitt pgo_035.028 entwickelt, und dessen weitere Ausführung in allen seinen Bestimmungen pgo_035.029 erst unser ganzes Werk geben kann. Hiernach ist die Dichtkunst diejenige pgo_035.030 Kunst, welche die Jdee des Schönen mit, in und für die Phantasie darstellt, pgo_035.031 indem die schaffende Phantasie aus den Tiefen der Empfindung pgo_035.032 heraus ihr die Jdee spiegelndes und tragendes Gebilde mittelst der idealen pgo_035.033 Sprache in der idealen Sinnlichkeit der empfangenden Phantasie aufbaut.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/57>, abgerufen am 28.09.2024.
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