Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_042.001 Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung, pgo_042.021 An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog. pgo_042.022 Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen, pgo_042.027 Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen, pgo_042.028 Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen -- pgo_042.029 Jmmer mehr -- noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen, pgo_042.030 Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen. pgo_042.031 pgo_042.001 Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung, pgo_042.021 An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog. pgo_042.022 Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen, pgo_042.027 Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen, pgo_042.028 Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen — pgo_042.029 Jmmer mehr — noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen, pgo_042.030 Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen. pgo_042.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0064" n="42"/><lb n="pgo_042.001"/> Grundsätzen? Sind sie nur eine exotische Pflanze im Blumengarten <lb n="pgo_042.002"/> der alten, beschreibenden Poesie? Jst Freiligrath nur ein Haller <lb n="pgo_042.003"/> <foreign xml:lang="lat">redivivus</foreign>, der, statt auf den Alpen, in allen Zonen herumbotanisirt? <lb n="pgo_042.004"/> Und soll diese reiche, neuentdeckte Welt, die durch ihre Farbenpracht so <lb n="pgo_042.005"/> anlockend wirkt, die Welt der Tropen und der Pole, deren Schleier kühne <lb n="pgo_042.006"/> Reisende zerrissen, für die Poesie ein für alle Mal verloren sein? Gewiß <lb n="pgo_042.007"/> nicht! Es kommt nur auf die Behandlungsweise an, und ein echtes <lb n="pgo_042.008"/> Dichtertalent wird uns keinen <foreign xml:lang="lat">orbis pictus</foreign> todter Bilder geben, ohne <lb n="pgo_042.009"/> die Seele, ohne die Bewegung der Poesie. Was zunächst liegt, ist, die <lb n="pgo_042.010"/> Natur zu schildern in ihrem Kampfe mit den Menschen und so ihren <lb n="pgo_042.011"/> großartigen Bildern die höchste Bewegung und tiefste Bedeutung zu <lb n="pgo_042.012"/> geben. Hierher gehört z. B. <hi rendition="#g">Freiligrath's</hi> „<hi rendition="#g">Mirage</hi>“ und mein <lb n="pgo_042.013"/> Gedicht auf „<hi rendition="#g">Franklin,</hi>“ wo ich die Polarwelt in ihrem Kampfe mit <lb n="pgo_042.014"/> dem kühnen Weltentdecker schildere. Dann aber ist es der Hauch einer <lb n="pgo_042.015"/> kosmopolitischen Empfindung, der Odem eines mächtigen, völkerverbindenden <lb n="pgo_042.016"/> Weltverkehrs, welcher die Segel der Freiligrath'schen Gedichte <lb n="pgo_042.017"/> schwellt. Dies ist z. B. in „<foreign xml:lang="eng">Florida of Boston</foreign>“ nicht in breiten <lb n="pgo_042.018"/> Reflexionen ausgesprochen, aber doch wie ein Aether der Stimmung <lb n="pgo_042.019"/> über das Ganze ausgebreitet:</p> <lb n="pgo_042.020"/> <lg> <l>Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung,</l> <lb n="pgo_042.021"/> <l>An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog.</l> </lg> <p><lb n="pgo_042.022"/> Jm „<hi rendition="#g">Gesicht des Reisenden</hi>“ ist die Wüste lebendig gemacht <lb n="pgo_042.023"/> mit allen ihren Schrecken; sie erzählt ihre Geschichte. Dies ist nicht <lb n="pgo_042.024"/> dichterische Schilderung, und kein Maler kann es darstellen, weil alles <lb n="pgo_042.025"/> wie im Wirbel vorüber braust:</p> <lb n="pgo_042.026"/> <lg> <l>Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen,</l> <lb n="pgo_042.027"/> <l>Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen,</l> <lb n="pgo_042.028"/> <l>Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen —</l> <lb n="pgo_042.029"/> <l>Jmmer mehr — noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen,</l> <lb n="pgo_042.030"/> <l>Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen.</l> </lg> <p><lb n="pgo_042.031"/> Jn seinen berühmten Thierbildern: „<hi rendition="#g">Löwenritt,</hi>“ „<hi rendition="#g">Unter den <lb n="pgo_042.032"/> Palmen</hi>“ schildert <hi rendition="#g">Freiligrath</hi> nicht die Thiere, wie <hi rendition="#g">Raff,</hi> sondern <lb n="pgo_042.033"/> er zeigt sie uns in Bewegung, in heißem Kampf, und jeder Kampf hat <lb n="pgo_042.034"/> seine sittliche Spannung. Hat man Freiligrath den <hi rendition="#g">van Aken</hi> der <lb n="pgo_042.035"/> Poesie genannt: so gilt dies insofern mit Recht, als er zuerst gleichsam <lb n="pgo_042.036"/> seinen dichterischen Kopf der Thierwelt in den Rachen steckte und ihn </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0064]
pgo_042.001
Grundsätzen? Sind sie nur eine exotische Pflanze im Blumengarten pgo_042.002
der alten, beschreibenden Poesie? Jst Freiligrath nur ein Haller pgo_042.003
redivivus, der, statt auf den Alpen, in allen Zonen herumbotanisirt? pgo_042.004
Und soll diese reiche, neuentdeckte Welt, die durch ihre Farbenpracht so pgo_042.005
anlockend wirkt, die Welt der Tropen und der Pole, deren Schleier kühne pgo_042.006
Reisende zerrissen, für die Poesie ein für alle Mal verloren sein? Gewiß pgo_042.007
nicht! Es kommt nur auf die Behandlungsweise an, und ein echtes pgo_042.008
Dichtertalent wird uns keinen orbis pictus todter Bilder geben, ohne pgo_042.009
die Seele, ohne die Bewegung der Poesie. Was zunächst liegt, ist, die pgo_042.010
Natur zu schildern in ihrem Kampfe mit den Menschen und so ihren pgo_042.011
großartigen Bildern die höchste Bewegung und tiefste Bedeutung zu pgo_042.012
geben. Hierher gehört z. B. Freiligrath's „Mirage“ und mein pgo_042.013
Gedicht auf „Franklin,“ wo ich die Polarwelt in ihrem Kampfe mit pgo_042.014
dem kühnen Weltentdecker schildere. Dann aber ist es der Hauch einer pgo_042.015
kosmopolitischen Empfindung, der Odem eines mächtigen, völkerverbindenden pgo_042.016
Weltverkehrs, welcher die Segel der Freiligrath'schen Gedichte pgo_042.017
schwellt. Dies ist z. B. in „Florida of Boston“ nicht in breiten pgo_042.018
Reflexionen ausgesprochen, aber doch wie ein Aether der Stimmung pgo_042.019
über das Ganze ausgebreitet:
pgo_042.020
Sie bringt der alten Welt von einer neuen Meldung, pgo_042.021
An deren grünem Strand das Schiff vorüberzog.
pgo_042.022
Jm „Gesicht des Reisenden“ ist die Wüste lebendig gemacht pgo_042.023
mit allen ihren Schrecken; sie erzählt ihre Geschichte. Dies ist nicht pgo_042.024
dichterische Schilderung, und kein Maler kann es darstellen, weil alles pgo_042.025
wie im Wirbel vorüber braust:
pgo_042.026
Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kameelen, pgo_042.027
Und der braune Sand, der wirbelnd sich erhebt in dunkeln Massen, pgo_042.028
Wandelt sich zu braunen Männern, die der Thiere Zügel fassen — pgo_042.029
Jmmer mehr — noch sind die letzten nicht an uns vorbeigezogen, pgo_042.030
Und schon kommen dort die ersten schlaffen Zaums zurückgeflogen.
pgo_042.031
Jn seinen berühmten Thierbildern: „Löwenritt,“ „Unter den pgo_042.032
Palmen“ schildert Freiligrath nicht die Thiere, wie Raff, sondern pgo_042.033
er zeigt sie uns in Bewegung, in heißem Kampf, und jeder Kampf hat pgo_042.034
seine sittliche Spannung. Hat man Freiligrath den van Aken der pgo_042.035
Poesie genannt: so gilt dies insofern mit Recht, als er zuerst gleichsam pgo_042.036
seinen dichterischen Kopf der Thierwelt in den Rachen steckte und ihn
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |