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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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und Wachsthume der Poesie.
terhalten, sondern auch je mehr und mehr zu bestärcken. Jn
diesem Vorhaben liessen sie sichs angelegen seyn, allerley an-
nehmliche und reitzende Sachen in ihre Lieder zu bringen, da-
durch die Gemüther der Zuhörer noch desto mehr an sich zu
locken und gleichsam zu fesseln. Nichts war dazu bey der
einfältigen Welt geschickter, als kleine Historien oder Fabeln,
die etwas wunderbares und ungemeines in sich enthielten.
Man sieht es ja an kleinen Kindern, wie begierig sie nach den
Erzehlungen ihrer Wärterinnen sind; und diesen unerfahr-
nen und neugierigen Creaturen waren die ältesten Völcker
gantz gleich. Das bezauberte nun gleichsam die sonst un-
gezogenen Gemüther. Die wildesten Leute verließen ihre
Wälder, und liefen einem Amphion oder Orpheus nach,
welche ihnen nicht nur auf ihren Leyern was vorspielten;
sondern auch allerley Fabeln von Göttern nnd Helden vor-
sungen: nicht viel besser als etwa itzo auf Messen und Jahr-
märckten die Bänckelsänger mit ihren Liedern von Wunder-
Geschichten, den Pöbel einzunehmen pflegen.

Jn dieser einmahl erhaltenen Hochachtung, erhielten sich
die nachfolgenden Dichter, durch die Schönheit des Ausdruc-
kes und die untermischten weisen Lehr- und Sitten-Sprüche.
Die Poeten redeten nicht die gemeine Sprache der andern
Leute, sondern ihre Redensarten waren edel und erhaben,
ihre Worte ausgesucht, ihre Sätze neu und wohlklingend,
und ihr gantzer Vortrag in einer verblümten oder gar allego-
rischen Schreibart abgefasset. So viel Witz und lebhaffte
Einbildungskrafft sie dadurch bewiesen, so viel Verstand und
hohe Weisheit zeigten sie durch die trefflichen Sittenlehren
und Lebens-Regeln, so sie in ihren Liedern mit vorbrachten.
Die alten Poeten waren nehmlich die ersten Weltweisen:
oder umgekehrt, die ältesten Weltweisen bedienten sich der
Poesie, um das rohe Volck dadurch zu zähmen. Horat.
Dichtk. v. 576.

Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten,
Zu zeigen, was vor gut und strafbar sey zu halten,
Was recht und schändlich war, der Unzucht feind zu seyn,
Den Beyschlaf abzuthun, den Ehstand einzuweyhn,
Die

und Wachsthume der Poeſie.
terhalten, ſondern auch je mehr und mehr zu beſtaͤrcken. Jn
dieſem Vorhaben lieſſen ſie ſichs angelegen ſeyn, allerley an-
nehmliche und reitzende Sachen in ihre Lieder zu bringen, da-
durch die Gemuͤther der Zuhoͤrer noch deſto mehr an ſich zu
locken und gleichſam zu feſſeln. Nichts war dazu bey der
einfaͤltigen Welt geſchickter, als kleine Hiſtorien oder Fabeln,
die etwas wunderbares und ungemeines in ſich enthielten.
Man ſieht es ja an kleinen Kindern, wie begierig ſie nach den
Erzehlungen ihrer Waͤrterinnen ſind; und dieſen unerfahr-
nen und neugierigen Creaturen waren die aͤlteſten Voͤlcker
gantz gleich. Das bezauberte nun gleichſam die ſonſt un-
gezogenen Gemuͤther. Die wildeſten Leute verließen ihre
Waͤlder, und liefen einem Amphion oder Orpheus nach,
welche ihnen nicht nur auf ihren Leyern was vorſpielten;
ſondern auch allerley Fabeln von Goͤttern nnd Helden vor-
ſungen: nicht viel beſſer als etwa itzo auf Meſſen und Jahr-
maͤrckten die Baͤnckelſaͤnger mit ihren Liedern von Wunder-
Geſchichten, den Poͤbel einzunehmen pflegen.

Jn dieſer einmahl erhaltenen Hochachtung, erhielten ſich
die nachfolgenden Dichter, durch die Schoͤnheit des Ausdruc-
kes und die untermiſchten weiſen Lehr- und Sitten-Spruͤche.
Die Poeten redeten nicht die gemeine Sprache der andern
Leute, ſondern ihre Redensarten waren edel und erhaben,
ihre Worte ausgeſucht, ihre Saͤtze neu und wohlklingend,
und ihr gantzer Vortrag in einer verbluͤmten oder gar allego-
riſchen Schreibart abgefaſſet. So viel Witz und lebhaffte
Einbildungskrafft ſie dadurch bewieſen, ſo viel Verſtand und
hohe Weisheit zeigten ſie durch die trefflichen Sittenlehren
und Lebens-Regeln, ſo ſie in ihren Liedern mit vorbrachten.
Die alten Poeten waren nehmlich die erſten Weltweiſen:
oder umgekehrt, die aͤlteſten Weltweiſen bedienten ſich der
Poeſie, um das rohe Volck dadurch zu zaͤhmen. Horat.
Dichtk. v. 576.

Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten,
Zu zeigen, was vor gut und ſtrafbar ſey zu halten,
Was recht und ſchaͤndlich war, der Unzucht feind zu ſeyn,
Den Beyſchlaf abzuthun, den Ehſtand einzuweyhn,
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[75/0103] und Wachsthume der Poeſie. terhalten, ſondern auch je mehr und mehr zu beſtaͤrcken. Jn dieſem Vorhaben lieſſen ſie ſichs angelegen ſeyn, allerley an- nehmliche und reitzende Sachen in ihre Lieder zu bringen, da- durch die Gemuͤther der Zuhoͤrer noch deſto mehr an ſich zu locken und gleichſam zu feſſeln. Nichts war dazu bey der einfaͤltigen Welt geſchickter, als kleine Hiſtorien oder Fabeln, die etwas wunderbares und ungemeines in ſich enthielten. Man ſieht es ja an kleinen Kindern, wie begierig ſie nach den Erzehlungen ihrer Waͤrterinnen ſind; und dieſen unerfahr- nen und neugierigen Creaturen waren die aͤlteſten Voͤlcker gantz gleich. Das bezauberte nun gleichſam die ſonſt un- gezogenen Gemuͤther. Die wildeſten Leute verließen ihre Waͤlder, und liefen einem Amphion oder Orpheus nach, welche ihnen nicht nur auf ihren Leyern was vorſpielten; ſondern auch allerley Fabeln von Goͤttern nnd Helden vor- ſungen: nicht viel beſſer als etwa itzo auf Meſſen und Jahr- maͤrckten die Baͤnckelſaͤnger mit ihren Liedern von Wunder- Geſchichten, den Poͤbel einzunehmen pflegen. Jn dieſer einmahl erhaltenen Hochachtung, erhielten ſich die nachfolgenden Dichter, durch die Schoͤnheit des Ausdruc- kes und die untermiſchten weiſen Lehr- und Sitten-Spruͤche. Die Poeten redeten nicht die gemeine Sprache der andern Leute, ſondern ihre Redensarten waren edel und erhaben, ihre Worte ausgeſucht, ihre Saͤtze neu und wohlklingend, und ihr gantzer Vortrag in einer verbluͤmten oder gar allego- riſchen Schreibart abgefaſſet. So viel Witz und lebhaffte Einbildungskrafft ſie dadurch bewieſen, ſo viel Verſtand und hohe Weisheit zeigten ſie durch die trefflichen Sittenlehren und Lebens-Regeln, ſo ſie in ihren Liedern mit vorbrachten. Die alten Poeten waren nehmlich die erſten Weltweiſen: oder umgekehrt, die aͤlteſten Weltweiſen bedienten ſich der Poeſie, um das rohe Volck dadurch zu zaͤhmen. Horat. Dichtk. v. 576. Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten, Zu zeigen, was vor gut und ſtrafbar ſey zu halten, Was recht und ſchaͤndlich war, der Unzucht feind zu ſeyn, Den Beyſchlaf abzuthun, den Ehſtand einzuweyhn, Die

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/103>, abgerufen am 29.11.2024.