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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
worinn der ſaure Geſchmack vom bittern, dieſer vom herben,
ſcharfen u. ſ. f. unterſchieden ſey, und woran wir einen vor dem
andern erkennen? Dieſes zeiget daß unſre Vorſtellungen
davon verwirrt, und eben ſo undeutlich ſind als die Begriffe
von der rothen, blauen, gruͤnen oder gelben Farbe. Und von
eben dieſer Undeutlichkeit kommt es her, daß man das Sprich-
wort gemacht hat: Vom Geſchmacke muͤſſe man nicht viel
zancken.

Weiter nehme ich aus der gemeinen Sprache an, daß
man denen, die den geſunden Gebrauch ihrer Zunge haben,
den guten Geſchmack nicht abzuſprechen pflegt; ſo lange ſie
ſagen, daß der Zucker ſuͤß, Wermuth bitter, und Eßig ſauer
ſchmeckt: Denn darinn koͤmmt die gantze Welt uͤberein.
Wer hergegen ein Gallenfieber hat, ſo, daß ihm alles ohne
Unterſcheid bitter ſchmeckt, dem eignet man einen verderbten
Geſchmack zu; weil er nicht mehr nach Beſchaffenheit der
Sachen, ſondern nach ſeiner verderbten Zunge urtheilet.
Jmgleichen pflegt es zu geſchehen, daß ſich gewiſſe Leute von
Jugend auf gewoͤhnen Kohlen, Kalck, Kreide u. a. m. zu
eſſen; daher es nachmahls kommt, daß ſie in dem Genuſſe
ſolcher ungeſchmackten Dinge einen beſondern Geſchmack zu
finden vermeynen, welchen aber niemand der keine ſo ver-
wehnte Zunge hat, darinn finden kan. Von ſolchen Leuten
ſagt man nun auch, daß ſie einen verderbten, uͤbeln oder ver-
kehrten Geſchmack haben. Und ſo viel vom Geſchmacke im
eigentlichen Verſtande.

Von dem metaphoriſchen Geſchmacke unſrer Seelen
bemercket man, daß man ſich dieſes Wortes faſt gantz allein
in freyen Kuͤnſten und etlichen andern ſinnlichen Dingen be-
dienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt,
da pflegt man daſſelbe nicht zu brauchen. Der Geſchmack
in der Poeſie, Beredſamkeit, Muſic, Mahlerey und Bau-
Kunſt; imgleichen in Kleidungen, Gaͤrten, Hausrathe u.
d. m. iſt ſehr bekannt. Aber niemahls habe ich noch vom
Geſchmacke in der Arithmetic und Geometrie, oder in andern
Wiſſenſchafften reden hoͤren, wo man aus deutlich erkannten
Grund-Wahrheiten die ſtrengeſten Demonſtrationen zu

machen
G 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/129>, abgerufen am 02.03.2025.