beyde Urtheile wahre Schönheiten oder Ungereimtheiten zum Grunde? So müste ein Ding zugleich schön und heß- lich, zugleich wahr und falsch, zugleich ordentlich und ver- wirrt: zugleich weiß und schwartz seyn können. Wer soll sich aber nach des andern Urtheile bequemen? Soll der Mei- ster dem Schüler, oder der Schüler dem Meister folgen? Ohne zweifel wird derjenige bessern Grund von der Sache haben, der seinem Gegenpart die Unrichtigkeit seines Ur- theils zeigen und ihn dahin bringen kan, daß er seinen vorigen Ausspruch wiederrufft. Nun lasse man einen unerfahrnen Schüler seinem Meister so lange er will vorsagen, daß ein Fehler eine Schönheit sey: Nimmermehr wird ers so weit bringen, daß jener seine Vernunft, Einsicht und Sinne ver- läugne, und daran einen Gefallen zu haben anfange, dessen Unordnung und Mißhelligkeit er aus den Kunst-Regeln un- umstößlich zu erweisen im Stande ist. Dem Schüler aber fehlt es nur an Unterricht: So bald er die Natur der Sa- chen wird verstehen lernen, wird er sich schämen, daß er vor- hin etwas bewundern können, was nur eine Schein-Schön- heit an sich gehabt; in der That aber ein Zusammenfluß un- zehlicher Ungereimtheiten gewesen.
So müssen sich denn die Poeten niemahls nach dem Geschmacke der Welt, das ist des großen Haufens, oder un- verständigen Pöbels richten. Dieser vielköpfigte Götze ur- theilt offt sehr verkehrt von Dingen. Er muß vielmehr su- chen den Geschmack seines Vaterlandes, seines Hofes, sei- ner Stadt zu läutern: Es wäre denn daß dieses schon vor ihm geschehen wäre. Es geschieht aber niemahls gantz voll- kommen; und es bleibet auch in dem gescheutesten Volcke allezeit ein Uberrest des übeln Geschmackes zurücke. Jn Rom hatte Terentius und Lucretius schon einen ziemlich rei- nen und zarten Geschmack erwiesen. Doch klagt Horatius in seinem langen Briefe'an den Kayser sowohl, als in seiner Dicht-Kunst, daß die Römer noch an den Plautinischen Zo- ten, und Lucilii unreinen Possen ein Belieben trügen. Ba- vius und Mävius fanden auch ihre Anbeter. Hätten sich nun Virgilius und Varus nach dem Geschmacke der sonst
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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
beyde Urtheile wahre Schoͤnheiten oder Ungereimtheiten zum Grunde? So muͤſte ein Ding zugleich ſchoͤn und heß- lich, zugleich wahr und falſch, zugleich ordentlich und ver- wirrt: zugleich weiß und ſchwartz ſeyn koͤnnen. Wer ſoll ſich aber nach des andern Urtheile bequemen? Soll der Mei- ſter dem Schuͤler, oder der Schuͤler dem Meiſter folgen? Ohne zweifel wird derjenige beſſern Grund von der Sache haben, der ſeinem Gegenpart die Unrichtigkeit ſeines Ur- theils zeigen und ihn dahin bringen kan, daß er ſeinen vorigen Ausſpruch wiederrufft. Nun laſſe man einen unerfahrnen Schuͤler ſeinem Meiſter ſo lange er will vorſagen, daß ein Fehler eine Schoͤnheit ſey: Nimmermehr wird ers ſo weit bringen, daß jener ſeine Vernunft, Einſicht und Sinne ver- laͤugne, und daran einen Gefallen zu haben anfange, deſſen Unordnung und Mißhelligkeit er aus den Kunſt-Regeln un- umſtoͤßlich zu erweiſen im Stande iſt. Dem Schuͤler aber fehlt es nur an Unterricht: So bald er die Natur der Sa- chen wird verſtehen lernen, wird er ſich ſchaͤmen, daß er vor- hin etwas bewundern koͤnnen, was nur eine Schein-Schoͤn- heit an ſich gehabt; in der That aber ein Zuſammenfluß un- zehlicher Ungereimtheiten geweſen.
So muͤſſen ſich denn die Poeten niemahls nach dem Geſchmacke der Welt, das iſt des großen Haufens, oder un- verſtaͤndigen Poͤbels richten. Dieſer vielkoͤpfigte Goͤtze ur- theilt offt ſehr verkehrt von Dingen. Er muß vielmehr ſu- chen den Geſchmack ſeines Vaterlandes, ſeines Hofes, ſei- ner Stadt zu laͤutern: Es waͤre denn daß dieſes ſchon vor ihm geſchehen waͤre. Es geſchieht aber niemahls gantz voll- kommen; und es bleibet auch in dem geſcheuteſten Volcke allezeit ein Uberreſt des uͤbeln Geſchmackes zuruͤcke. Jn Rom hatte Terentius und Lucretius ſchon einen ziemlich rei- nen und zarten Geſchmack erwieſen. Doch klagt Horatius in ſeinem langen Briefe’an den Kayſer ſowohl, als in ſeiner Dicht-Kunſt, daß die Roͤmer noch an den Plautiniſchen Zo- ten, und Lucilii unreinen Poſſen ein Belieben truͤgen. Ba- vius und Maͤvius fanden auch ihre Anbeter. Haͤtten ſich nun Virgilius und Varus nach dem Geſchmacke der ſonſt
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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
beyde Urtheile wahre Schoͤnheiten oder Ungereimtheiten
zum Grunde? So muͤſte ein Ding zugleich ſchoͤn und heß-
lich, zugleich wahr und falſch, zugleich ordentlich und ver-
wirrt: zugleich weiß und ſchwartz ſeyn koͤnnen. Wer ſoll
ſich aber nach des andern Urtheile bequemen? Soll der Mei-
ſter dem Schuͤler, oder der Schuͤler dem Meiſter folgen?
Ohne zweifel wird derjenige beſſern Grund von der Sache
haben, der ſeinem Gegenpart die Unrichtigkeit ſeines Ur-
theils zeigen und ihn dahin bringen kan, daß er ſeinen vorigen
Ausſpruch wiederrufft. Nun laſſe man einen unerfahrnen
Schuͤler ſeinem Meiſter ſo lange er will vorſagen, daß ein
Fehler eine Schoͤnheit ſey: Nimmermehr wird ers ſo weit
bringen, daß jener ſeine Vernunft, Einſicht und Sinne ver-
laͤugne, und daran einen Gefallen zu haben anfange, deſſen
Unordnung und Mißhelligkeit er aus den Kunſt-Regeln un-
umſtoͤßlich zu erweiſen im Stande iſt. Dem Schuͤler aber
fehlt es nur an Unterricht: So bald er die Natur der Sa-
chen wird verſtehen lernen, wird er ſich ſchaͤmen, daß er vor-
hin etwas bewundern koͤnnen, was nur eine Schein-Schoͤn-
heit an ſich gehabt; in der That aber ein Zuſammenfluß un-
zehlicher Ungereimtheiten geweſen.
So muͤſſen ſich denn die Poeten niemahls nach dem
Geſchmacke der Welt, das iſt des großen Haufens, oder un-
verſtaͤndigen Poͤbels richten. Dieſer vielkoͤpfigte Goͤtze ur-
theilt offt ſehr verkehrt von Dingen. Er muß vielmehr ſu-
chen den Geſchmack ſeines Vaterlandes, ſeines Hofes, ſei-
ner Stadt zu laͤutern: Es waͤre denn daß dieſes ſchon vor
ihm geſchehen waͤre. Es geſchieht aber niemahls gantz voll-
kommen; und es bleibet auch in dem geſcheuteſten Volcke
allezeit ein Uberreſt des uͤbeln Geſchmackes zuruͤcke. Jn
Rom hatte Terentius und Lucretius ſchon einen ziemlich rei-
nen und zarten Geſchmack erwieſen. Doch klagt Horatius
in ſeinem langen Briefe’an den Kayſer ſowohl, als in ſeiner
Dicht-Kunſt, daß die Roͤmer noch an den Plautiniſchen Zo-
ten, und Lucilii unreinen Poſſen ein Belieben truͤgen. Ba-
vius und Maͤvius fanden auch ihre Anbeter. Haͤtten ſich
nun Virgilius und Varus nach dem Geſchmacke der ſonſt
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/141>, abgerufen am 02.03.2025.
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