vor den Augen des Schauplatzes zum Schweine wollte wer- den lassen. Wer nicht weiß wie lächerlich dieses ist, darf nur den Peter Squentz des Andreas Gryphius nachlesen, wo sogar die Wand und der Brunn, der Mond und der Leue als redende Personen aufgeführet werden. Da kan es denn wohl mit Recht heissen:
Quodcunque ostendis mihi sic, incredulus odi.
Denn es ist gewiß, daß dergleichen Dinge, die man bey einer bloßen Erzehlung eben nicht vor ungereimt gehalten haben würde, gantz und gar ungläublich heraus kommen, wenn wir sie mit eigenen Augen ansehen, und also das Unmögliche, so darinn vorkommt, in voller Deutlichkeit wahrnehmen können.
Jn andern kleinern Gedichten gehören hauptsächlich die Fabeln unter das Wunderbare. So fängt Horatz die 19te Ode des andern Buches an. Er erzehlt wie er den Bacchus auf einem entlegenen Felsen sitzend gesehen, wo er den Nym- phen und bockfüßigten Satiren, Lieder gelehret habe.
Bacchum in remotis carmina rupibus Vidi docentem, (credite posteri!) Nymphasque discentes & aures Capripedum Satyrorum acutas.
Oder man erzehlt eine Verwandlung, die sich womit zuge- tragen haben solle, oder noch zutragen werde: wie ebenfalls Horatius thut, wenn er in der XX Ode des II Buchs sagt, daß er selbst zum Schwane werden und sich hoch über alles erheben wolle. Dergleichen Dinge nun klingen wunder- bar, sind aber nicht ungereimt, zumahl wenn ein allegorischer Verstand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden kan. Man merckt es also gleich, was der Poet damit im Sinne gehabt, und wenn sonst nur nichts wiedersinnisches in der Fabel vorkommt, wird man sie nicht verwerfen. Es dörfen aber unsre neue Fabeln deßwegen nicht alle auf heyd- nische Art herauskommen. Man kan allegorische Personen darinn aufführen, die nach ihrer Art charaeterisiret werden, ohne an die Götter der Griechen und Römer zu dencken. Wir sind es längst gewohnt von Tugenden und Lastern, von
den
Das V. Capitel
vor den Augen des Schauplatzes zum Schweine wollte wer- den laſſen. Wer nicht weiß wie laͤcherlich dieſes iſt, darf nur den Peter Squentz des Andreas Gryphius nachleſen, wo ſogar die Wand und der Brunn, der Mond und der Leue als redende Perſonen aufgefuͤhret werden. Da kan es denn wohl mit Recht heiſſen:
Quodcunque oſtendis mihi ſic, incredulus odi.
Denn es iſt gewiß, daß dergleichen Dinge, die man bey einer bloßen Erzehlung eben nicht vor ungereimt gehalten haben wuͤrde, gantz und gar unglaͤublich heraus kommen, wenn wir ſie mit eigenen Augen anſehen, und alſo das Unmoͤgliche, ſo darinn vorkommt, in voller Deutlichkeit wahrnehmen koͤnnen.
Jn andern kleinern Gedichten gehoͤren hauptſaͤchlich die Fabeln unter das Wunderbare. So faͤngt Horatz die 19te Ode des andern Buches an. Er erzehlt wie er den Bacchus auf einem entlegenen Felſen ſitzend geſehen, wo er den Nym- phen und bockfuͤßigten Satiren, Lieder gelehret habe.
Bacchum in remotis carmina rupibus Vidi docentem, (credite poſteri!) Nymphasque diſcentes & aures Capripedum Satyrorum acutas.
Oder man erzehlt eine Verwandlung, die ſich womit zuge- tragen haben ſolle, oder noch zutragen werde: wie ebenfalls Horatius thut, wenn er in der XX Ode des II Buchs ſagt, daß er ſelbſt zum Schwane werden und ſich hoch uͤber alles erheben wolle. Dergleichen Dinge nun klingen wunder- bar, ſind aber nicht ungereimt, zumahl wenn ein allegoriſcher Verſtand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden kan. Man merckt es alſo gleich, was der Poet damit im Sinne gehabt, und wenn ſonſt nur nichts wiederſinniſches in der Fabel vorkommt, wird man ſie nicht verwerfen. Es doͤrfen aber unſre neue Fabeln deßwegen nicht alle auf heyd- niſche Art herauskommen. Man kan allegoriſche Perſonen darinn auffuͤhren, die nach ihrer Art charaeteriſiret werden, ohne an die Goͤtter der Griechen und Roͤmer zu dencken. Wir ſind es laͤngſt gewohnt von Tugenden und Laſtern, von
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Das V. Capitel
vor den Augen des Schauplatzes zum Schweine wollte wer-
den laſſen. Wer nicht weiß wie laͤcherlich dieſes iſt, darf
nur den Peter Squentz des Andreas Gryphius nachleſen,
wo ſogar die Wand und der Brunn, der Mond und der Leue
als redende Perſonen aufgefuͤhret werden. Da kan es denn
wohl mit Recht heiſſen:
Quodcunque oſtendis mihi ſic, incredulus odi.
Denn es iſt gewiß, daß dergleichen Dinge, die man bey einer
bloßen Erzehlung eben nicht vor ungereimt gehalten haben
wuͤrde, gantz und gar unglaͤublich heraus kommen, wenn
wir ſie mit eigenen Augen anſehen, und alſo das Unmoͤgliche,
ſo darinn vorkommt, in voller Deutlichkeit wahrnehmen
koͤnnen.
Jn andern kleinern Gedichten gehoͤren hauptſaͤchlich die
Fabeln unter das Wunderbare. So faͤngt Horatz die 19te
Ode des andern Buches an. Er erzehlt wie er den Bacchus
auf einem entlegenen Felſen ſitzend geſehen, wo er den Nym-
phen und bockfuͤßigten Satiren, Lieder gelehret habe.
Bacchum in remotis carmina rupibus
Vidi docentem, (credite poſteri!)
Nymphasque diſcentes & aures
Capripedum Satyrorum acutas.
Oder man erzehlt eine Verwandlung, die ſich womit zuge-
tragen haben ſolle, oder noch zutragen werde: wie ebenfalls
Horatius thut, wenn er in der XX Ode des II Buchs ſagt,
daß er ſelbſt zum Schwane werden und ſich hoch uͤber alles
erheben wolle. Dergleichen Dinge nun klingen wunder-
bar, ſind aber nicht ungereimt, zumahl wenn ein allegoriſcher
Verſtand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden
kan. Man merckt es alſo gleich, was der Poet damit im
Sinne gehabt, und wenn ſonſt nur nichts wiederſinniſches in
der Fabel vorkommt, wird man ſie nicht verwerfen. Es
doͤrfen aber unſre neue Fabeln deßwegen nicht alle auf heyd-
niſche Art herauskommen. Man kan allegoriſche Perſonen
darinn auffuͤhren, die nach ihrer Art charaeteriſiret werden,
ohne an die Goͤtter der Griechen und Roͤmer zu dencken.
Wir ſind es laͤngſt gewohnt von Tugenden und Laſtern, von
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/182>, abgerufen am 06.10.2024.
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