Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von dem Wunderbaren in der Poesie. recht seltsame Klagrede poetisch abgefaßt lesen will, der schla-ge Salomon Francken nach, wo er die Susanna von ihrem Manne und Kindern Abschied nehmen läst. Er bemüht sich einen so gerechten Schmertz einer unschuldig Verurtheilten in seiner höchsten Vollkommenheit vorzustellen, und ihn recht wunderbar zu bilden; verfällt aber ins abgeschmackte: wie es gemeiniglich denen geht die etwas unternehmen, dem sie nicht gewachsen sind. Jch will doch ein Stücke davon herse- tzen: So hebt sie p. 52. an: Nun du, du wirst es, du! du! Gott, du wirst es rächen, Dir, schreyt Susanna, dir, Herr, ist mein Hertz bekannt, Weh! weh! weh! über - - und als sie mehr will sprechen Sinckt sie in Ohnmacht - - - - Hätte der Poet es dabey bewenden lassen, so hätte man es Ach gute Nacht mein Mann! ach gute Nacht! o Schmertzen! Ach Liebster, nimm doch! ach! die Kinder wohl in acht. Und, süsse Mutter, du, als die du unterm Hertzen Mich, ach! getragen hast, viel tausend gute Nacht. Ach gute Nacht, o Welt! du Kercker voller Buben, Du ungetreues Haus! vor deinen Augen zwar Bin ich jetzund verdammt: doch wird auch nach der Gruben Mein' Unschuld wunderlich noch werden offenbar. Ach gute Nacht! ach! ach! ach! gute Nacht, o Schmertzen! Ach Liebster! nimm doch ach! die Kinder wohl in acht Und süsse Mutter du, als die du unterm Hertzen Mich, ach! getragen hast; viel tausend guter Nacht. Nun, gut'! ach! gute Nacht! ach gute Nacht! o Sorgen Ey! Ey! daß! ach! daß GOtt! ach GOtt! daß GOtt erbarm! Jhr zarten Kinder! ach! ach! auch euch ist noch verborgen, Was ihr itzund verliert. O Schmertz! o Gram! o Harm! Jch muß in bester Blüt euch lassen. Ach! o Scheiden! Ach! ach! wie schwer! ach! schwer! wie! ach! wie schwer bistu! O Schmach!
Von dem Wunderbaren in der Poeſie. recht ſeltſame Klagrede poetiſch abgefaßt leſen will, der ſchla-ge Salomon Francken nach, wo er die Suſanna von ihrem Manne und Kindern Abſchied nehmen laͤſt. Er bemuͤht ſich einen ſo gerechten Schmertz einer unſchuldig Verurtheilten in ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit vorzuſtellen, und ihn recht wunderbar zu bilden; verfaͤllt aber ins abgeſchmackte: wie es gemeiniglich denen geht die etwas unternehmen, dem ſie nicht gewachſen ſind. Jch will doch ein Stuͤcke davon herſe- tzen: So hebt ſie p. 52. an: Nun du, du wirſt es, du! du! Gott, du wirſt es raͤchen, Dir, ſchreyt Suſanna, dir, Herr, iſt mein Hertz bekannt, Weh! weh! weh! uͤber ‒ ‒ und als ſie mehr will ſprechen Sinckt ſie in Ohnmacht ‒ ‒ ‒ ‒ Haͤtte der Poet es dabey bewenden laſſen, ſo haͤtte man es Ach gute Nacht mein Mann! ach gute Nacht! o Schmertzen! Ach Liebſter, nimm doch! ach! die Kinder wohl in acht. Und, ſuͤſſe Mutter, du, als die du unterm Hertzen Mich, ach! getragen haſt, viel tauſend gute Nacht. Ach gute Nacht, o Welt! du Kercker voller Buben, Du ungetreues Haus! vor deinen Augen zwar Bin ich jetzund verdammt: doch wird auch nach der Gruben Mein’ Unſchuld wunderlich noch werden offenbar. Ach gute Nacht! ach! ach! ach! gute Nacht, o Schmertzen! Ach Liebſter! nimm doch ach! die Kinder wohl in acht Und ſuͤſſe Mutter du, als die du unterm Hertzen Mich, ach! getragen haſt; viel tauſend guter Nacht. Nun, gut’! ach! gute Nacht! ach gute Nacht! o Sorgen Ey! Ey! daß! ach! daß GOtt! ach GOtt! daß GOtt erbarm! Jhr zarten Kinder! ach! ach! auch euch iſt noch verborgen, Was ihr itzund verliert. O Schmertz! o Gram! o Harm! Jch muß in beſter Bluͤt euch laſſen. Ach! o Scheiden! Ach! ach! wie ſchwer! ach! ſchwer! wie! ach! wie ſchwer biſtu! O Schmach!
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Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
recht ſeltſame Klagrede poetiſch abgefaßt leſen will, der ſchla-
ge Salomon Francken nach, wo er die Suſanna von ihrem
Manne und Kindern Abſchied nehmen laͤſt. Er bemuͤht ſich
einen ſo gerechten Schmertz einer unſchuldig Verurtheilten
in ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit vorzuſtellen, und ihn recht
wunderbar zu bilden; verfaͤllt aber ins abgeſchmackte: wie
es gemeiniglich denen geht die etwas unternehmen, dem ſie
nicht gewachſen ſind. Jch will doch ein Stuͤcke davon herſe-
tzen: So hebt ſie p. 52. an:
Nun du, du wirſt es, du! du! Gott, du wirſt es raͤchen,
Dir, ſchreyt Suſanna, dir, Herr, iſt mein Hertz bekannt,
Weh! weh! weh! uͤber ‒ ‒ und als ſie mehr will ſprechen
Sinckt ſie in Ohnmacht ‒ ‒ ‒ ‒
Haͤtte der Poet es dabey bewenden laſſen, ſo haͤtte man es
vor eine gluͤckliche Nachahmung der Natur angeſehen, und
die Groͤße ihres ungemeinen Schmertzens aus der ſie uͤber-
fallenden Ohnmacht geſchloſſen. Allein der Poet wollte
das Heulen und Weinen eines wehmuͤthigen Weibes noch
beſſer abſchildern, darum laͤſt er ſie wieder aufleben und
mit achzig langen Verßen einen ziemlich ausfuͤhrlichen Ab-
ſcheid nehmen:
Ach gute Nacht mein Mann! ach gute Nacht! o Schmertzen!
Ach Liebſter, nimm doch! ach! die Kinder wohl in acht.
Und, ſuͤſſe Mutter, du, als die du unterm Hertzen
Mich, ach! getragen haſt, viel tauſend gute Nacht.
Ach gute Nacht, o Welt! du Kercker voller Buben,
Du ungetreues Haus! vor deinen Augen zwar
Bin ich jetzund verdammt: doch wird auch nach der Gruben
Mein’ Unſchuld wunderlich noch werden offenbar.
Ach gute Nacht! ach! ach! ach! gute Nacht, o Schmertzen!
Ach Liebſter! nimm doch ach! die Kinder wohl in acht
Und ſuͤſſe Mutter du, als die du unterm Hertzen
Mich, ach! getragen haſt; viel tauſend guter Nacht.
Nun, gut’! ach! gute Nacht! ach gute Nacht! o Sorgen
Ey! Ey! daß! ach! daß GOtt! ach GOtt! daß GOtt erbarm!
Jhr zarten Kinder! ach! ach! auch euch iſt noch verborgen,
Was ihr itzund verliert. O Schmertz! o Gram! o Harm!
Jch muß in beſter Bluͤt euch laſſen. Ach! o Scheiden!
Ach! ach! wie ſchwer! ach! ſchwer! wie! ach! wie ſchwer biſtu!
O Schmach!
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