Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Das VIII. Capitel

"Wer itzo in seinem gantzen Leben funfzig Jahre zurü-
"ckelegen kan, dem scheinet es trefflich viel zu seyn. Die
"Welt nimmt alle Tage ab, und will uns fast Abschied geben.
"Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kürtzer wird auch das
"Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieser Gnade segnet,
"daß er noch funfzig Jahre in seiner Ehe vollbringt, dem ist
"ein solch Wunderwerck und Glück wiederfahren, das kaum
"einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. etc.

Nun möchte ich gern wissen, wo hier das poetische We-
sen stecket; wo sich der Geist und Witz eines Dichters gewie-
sen habe? Alles dieses hat meines Erachtens ein jeder den-
cken und schreiben können, der niemahls einen Poeten gesehen
oder gelesen, ja kein Wort von Poesie reden gehört. Jn der
Besserischen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der
gemeinsten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben-
maaß und die Reime wegschaffet.

"Daß auf Erden von den Menschen Ehen vorgenommen
"werden, das kommt nicht vom Vorsatze der Menschen her.
"Es ist ein Werck Jupiters; Es ist mein Thun, der ich die
"Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen
"lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur
"von mir beschlossen werden.

Vielleicht halten viele davor, daß dieses eben die rechte
Schönheit der vernünftigen Poesie sey, gantz natürlich zu re-
den, und sich von allen schwülstigen Redensarten zu enthal-
ten. Allein wir wollen uns erstlich erinnern, daß Horatz uns
vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch über allen
Wolcken nach leerer Lufft zu schnappen; noch im Staube zu
kriechen: sondern die Mittelstraße zu halten, und auf dem er-
habenen Parnaß zu gehen befohlen.

Professus grandia, turget;
Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae:
In vitium ducit culpae fuga, si caret arte.

Vors andre ist es längst auch von Rednern angemercket wor-
den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verblümte Re-
densarten, so gar der ungebundnen Rede eine besondre An-
muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-

ner
Das VIII. Capitel

„Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ-
„ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die
„Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben.
„Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das
„Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet,
„daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt
„ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum
„einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc.

Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We-
ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie-
ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den-
cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen
oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der
Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der
gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben-
maaß und die Reime wegſchaffet.

„Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen
„werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her.
„Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die
„Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen
„lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur
„von mir beſchloſſen werden.

Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte
Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re-
den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal-
ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns
vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen
Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu
kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er-
habenen Parnaß zu gehen befohlen.

Profeſſus grandia, turget;
Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae:
In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte.

Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor-
den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re-
densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An-
muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-

ner
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0242" n="214"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">VIII.</hi> Capitel</hi> </fw><lb/>
          <p>&#x201E;Wer itzo in &#x017F;einem gantzen Leben funfzig Jahre zuru&#x0364;-<lb/>
&#x201E;ckelegen kan, dem &#x017F;cheinet es trefflich viel zu &#x017F;eyn. Die<lb/>
&#x201E;Welt nimmt alle Tage ab, und will uns fa&#x017F;t Ab&#x017F;chied geben.<lb/>
&#x201E;Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je ku&#x0364;rtzer wird auch das<lb/>
&#x201E;Ziel. Welchen GOtt derohalben mit die&#x017F;er Gnade &#x017F;egnet,<lb/>
&#x201E;daß er noch funfzig Jahre in &#x017F;einer Ehe vollbringt, dem i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;ein &#x017F;olch Wunderwerck und Glu&#x0364;ck wiederfahren, das kaum<lb/>
&#x201E;einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. &#xA75B;c.</p><lb/>
          <p>Nun mo&#x0364;chte ich gern wi&#x017F;&#x017F;en, wo hier das poeti&#x017F;che We-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;tecket; wo &#x017F;ich der Gei&#x017F;t und Witz eines Dichters gewie-<lb/>
&#x017F;en habe? Alles die&#x017F;es hat meines Erachtens ein jeder den-<lb/>
cken und &#x017F;chreiben ko&#x0364;nnen, der niemahls einen Poeten ge&#x017F;ehen<lb/>
oder gele&#x017F;en, ja kein Wort von Poe&#x017F;ie reden geho&#x0364;rt. Jn der<lb/>
Be&#x017F;&#x017F;eri&#x017F;chen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der<lb/>
gemein&#x017F;ten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben-<lb/>
maaß und die Reime weg&#x017F;chaffet.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Daß auf Erden von den Men&#x017F;chen Ehen vorgenommen<lb/>
&#x201E;werden, das kommt nicht vom Vor&#x017F;atze der Men&#x017F;chen her.<lb/>
&#x201E;Es i&#x017F;t ein Werck Jupiters; Es i&#x017F;t mein Thun, der ich die<lb/>
&#x201E;Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen<lb/>
&#x201E;lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur<lb/>
&#x201E;von mir be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden.</p><lb/>
          <p>Vielleicht halten viele davor, daß die&#x017F;es eben die rechte<lb/>
Scho&#x0364;nheit der vernu&#x0364;nftigen Poe&#x017F;ie &#x017F;ey, gantz natu&#x0364;rlich zu re-<lb/>
den, und &#x017F;ich von allen &#x017F;chwu&#x0364;l&#x017F;tigen Redensarten zu enthal-<lb/>
ten. Allein wir wollen uns er&#x017F;tlich erinnern, daß Horatz uns<lb/>
vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch u&#x0364;ber allen<lb/>
Wolcken nach leerer Lufft zu &#x017F;chnappen; noch im Staube zu<lb/>
kriechen: &#x017F;ondern die Mittel&#x017F;traße zu halten, und auf dem er-<lb/>
habenen Parnaß zu gehen befohlen.</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l> <hi rendition="#aq">Profe&#x017F;&#x017F;us grandia, turget;</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae:</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">In vitium ducit culpae fuga, &#x017F;i caret arte.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Vors andre i&#x017F;t es la&#x0364;ng&#x017F;t auch von Rednern angemercket wor-<lb/>
den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verblu&#x0364;mte Re-<lb/>
densarten, &#x017F;o gar der ungebundnen Rede eine be&#x017F;ondre An-<lb/>
muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ner</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0242] Das VIII. Capitel „Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ- „ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die „Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben. „Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das „Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet, „daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt „ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum „einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc. Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We- ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie- ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den- cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben- maaß und die Reime wegſchaffet. „Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen „werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her. „Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die „Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen „lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur „von mir beſchloſſen werden. Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re- den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal- ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er- habenen Parnaß zu gehen befohlen. Profeſſus grandia, turget; Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae: In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte. Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor- den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re- densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An- muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red- ner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/242
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/242>, abgerufen am 24.11.2024.