Nichtsdestoweniger hat sich unser Vaterland, eine ge- raume Zeit her, in dergleichen gefirnißte Verße aufs äußer- ste verliebt gehabt: und man hat keinen vor einen Poeten halten wollen, der nicht diese hochtrabende Sprache reden können, die doch offt weder der Verfasser, noch seine Leser, mit allen ihren Sinnen erreichen können. Das beste Mittel wieder diesen schwülstigen Geist, ist das Lesen der alten Latei- ner und der neuern Franzosen. Wer sich die Schönheiten Terentii, Virgils, Horatii und Juvenalis bekannt und ge- läufig gemacht; wer den Boileau, Racine, Corneille und Moliere mit Verstande gelesen, und ihre natürliche Schön- heit der Gedancken kennen gelernet: Wer endlich den Lon- ginus, Bouhours, und Werenfels, (de meteoris orationis) gelesen hat, der wird gewiß unmöglich auf eine so seltsame Art des poetischen Ausdruckes verfallen: Gesetzt, daß er noch so erhaben zu schreiben gesonnen wäre.
Jch habe mich von meiner Hyperbole fast allzuweit ab- führen lassen, indem ich diese Gelegenheit ergreifen wollen, von einigen Fehlern der verblümten Schreibart zu handeln. Solches gehörte ohnedem in dieses Capitel, und es ist endlich einerley, ob es hier oder gantz am Ende desselben zu stehen ge- kommen. Mit der Verkleinerung, Litote oder Tapeinosis ist es eben so bewandt. Sie sagt allemahl weniger als in der That wahr ist; doch so, daß sie dadurch in keinen Jrrthum stürtzet. Z. E. Günther beschreibt seine Armuth so:
Jch darf mich ohnedem voritzo nicht beschweren, Als liessen Tisch und Schlaf mich wenig Zeit entbehren. Fünf Bissen in den Mund, so ist die Tafel gar; Die Glieder auf die Banck, das Hals-Tuch um das Haar, So bin ich in dem Bett und völlig ausgezogen. Die Hüffte glaubt es nicht, doch wird sie offt betrogen.
Die Synecdoche setzt auch wohl zuweilen die gantze Art eines Dinges vor eine besondre Gattung desselben. Z. E. Das Licht überhaupt vor die Sonne:
Willkommen schönes Licht! Das aus dem Himmels-Punct der Abyssinen
Jn
P 4
Von verbluͤmten Redens-Arten.
Nichtsdeſtoweniger hat ſich unſer Vaterland, eine ge- raume Zeit her, in dergleichen gefirnißte Verße aufs aͤußer- ſte verliebt gehabt: und man hat keinen vor einen Poeten halten wollen, der nicht dieſe hochtrabende Sprache reden koͤnnen, die doch offt weder der Verfaſſer, noch ſeine Leſer, mit allen ihren Sinnen erreichen koͤnnen. Das beſte Mittel wieder dieſen ſchwuͤlſtigen Geiſt, iſt das Leſen der alten Latei- ner und der neuern Franzoſen. Wer ſich die Schoͤnheiten Terentii, Virgils, Horatii und Juvenalis bekannt und ge- laͤufig gemacht; wer den Boileau, Racine, Corneille und Moliere mit Verſtande geleſen, und ihre natuͤrliche Schoͤn- heit der Gedancken kennen gelernet: Wer endlich den Lon- ginus, Bouhours, und Werenfels, (de meteoris orationis) geleſen hat, der wird gewiß unmoͤglich auf eine ſo ſeltſame Art des poetiſchen Ausdruckes verfallen: Geſetzt, daß er noch ſo erhaben zu ſchreiben geſonnen waͤre.
Jch habe mich von meiner Hyperbole faſt allzuweit ab- fuͤhren laſſen, indem ich dieſe Gelegenheit ergreifen wollen, von einigen Fehlern der verbluͤmten Schreibart zu handeln. Solches gehoͤrte ohnedem in dieſes Capitel, und es iſt endlich einerley, ob es hier oder gantz am Ende deſſelben zu ſtehen ge- kommen. Mit der Verkleinerung, Litote oder Tapeinoſis iſt es eben ſo bewandt. Sie ſagt allemahl weniger als in der That wahr iſt; doch ſo, daß ſie dadurch in keinen Jrrthum ſtuͤrtzet. Z. E. Guͤnther beſchreibt ſeine Armuth ſo:
Jch darf mich ohnedem voritzo nicht beſchweren, Als lieſſen Tiſch und Schlaf mich wenig Zeit entbehren. Fuͤnf Biſſen in den Mund, ſo iſt die Tafel gar; Die Glieder auf die Banck, das Hals-Tuch um das Haar, So bin ich in dem Bett und voͤllig ausgezogen. Die Huͤffte glaubt es nicht, doch wird ſie offt betrogen.
Die Synecdoche ſetzt auch wohl zuweilen die gantze Art eines Dinges vor eine beſondre Gattung deſſelben. Z. E. Das Licht uͤberhaupt vor die Sonne:
Willkommen ſchoͤnes Licht! Das aus dem Himmels-Punct der Abyſſinen
Jn
P 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0259"n="231"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von verbluͤmten Redens-Arten.</hi></fw><lb/><p>Nichtsdeſtoweniger hat ſich unſer Vaterland, eine ge-<lb/>
raume Zeit her, in dergleichen gefirnißte Verße aufs aͤußer-<lb/>ſte verliebt gehabt: und man hat keinen vor einen Poeten<lb/>
halten wollen, der nicht dieſe hochtrabende Sprache reden<lb/>
koͤnnen, die doch offt weder der Verfaſſer, noch ſeine Leſer, mit<lb/>
allen ihren Sinnen erreichen koͤnnen. Das beſte Mittel<lb/>
wieder dieſen ſchwuͤlſtigen Geiſt, iſt das Leſen der alten Latei-<lb/>
ner und der neuern Franzoſen. Wer ſich die Schoͤnheiten<lb/>
Terentii, Virgils, Horatii und Juvenalis bekannt und ge-<lb/>
laͤufig gemacht; wer den Boileau, Racine, Corneille und<lb/>
Moliere mit Verſtande geleſen, und ihre natuͤrliche Schoͤn-<lb/>
heit der Gedancken kennen gelernet: Wer endlich den Lon-<lb/>
ginus, Bouhours, und Werenfels, <hirendition="#aq">(de meteoris orationis)</hi><lb/>
geleſen hat, der wird gewiß unmoͤglich auf eine ſo ſeltſame<lb/>
Art des poetiſchen Ausdruckes verfallen: Geſetzt, daß er noch<lb/>ſo erhaben zu ſchreiben geſonnen waͤre.</p><lb/><p>Jch habe mich von meiner Hyperbole faſt allzuweit ab-<lb/>
fuͤhren laſſen, indem ich dieſe Gelegenheit ergreifen wollen,<lb/>
von einigen Fehlern der verbluͤmten Schreibart zu handeln.<lb/>
Solches gehoͤrte ohnedem in dieſes Capitel, und es iſt endlich<lb/>
einerley, ob es hier oder gantz am Ende deſſelben zu ſtehen ge-<lb/>
kommen. Mit der Verkleinerung, <hirendition="#fr">Litote</hi> oder <hirendition="#fr">Tapeinoſis</hi><lb/>
iſt es eben ſo bewandt. Sie ſagt allemahl weniger als in der<lb/>
That wahr iſt; doch ſo, daß ſie dadurch in keinen Jrrthum<lb/>ſtuͤrtzet. Z. E. Guͤnther beſchreibt ſeine Armuth ſo:</p><lb/><cit><quote><lgtype="poem"><l>Jch darf mich ohnedem voritzo nicht beſchweren,</l><lb/><l>Als lieſſen Tiſch und Schlaf mich wenig Zeit entbehren.</l><lb/><l>Fuͤnf Biſſen in den Mund, ſo iſt die Tafel gar;</l><lb/><l>Die Glieder auf die Banck, das Hals-Tuch um das Haar,</l><lb/><l>So bin ich in dem Bett und voͤllig ausgezogen.</l><lb/><l>Die Huͤffte glaubt es nicht, doch wird ſie offt betrogen.</l></lg></quote></cit><lb/><p>Die Synecdoche ſetzt auch wohl zuweilen die gantze Art eines<lb/>
Dinges vor eine beſondre Gattung deſſelben. Z. E. Das<lb/>
Licht uͤberhaupt vor die Sonne:</p><lb/><cit><quote><lgtype="poem"><l>Willkommen ſchoͤnes Licht!</l><lb/><l>Das aus dem Himmels-Punct der Abyſſinen</l><lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Jn</fw><lb/></lg></quote></cit></div></div></body></text></TEI>
[231/0259]
Von verbluͤmten Redens-Arten.
Nichtsdeſtoweniger hat ſich unſer Vaterland, eine ge-
raume Zeit her, in dergleichen gefirnißte Verße aufs aͤußer-
ſte verliebt gehabt: und man hat keinen vor einen Poeten
halten wollen, der nicht dieſe hochtrabende Sprache reden
koͤnnen, die doch offt weder der Verfaſſer, noch ſeine Leſer, mit
allen ihren Sinnen erreichen koͤnnen. Das beſte Mittel
wieder dieſen ſchwuͤlſtigen Geiſt, iſt das Leſen der alten Latei-
ner und der neuern Franzoſen. Wer ſich die Schoͤnheiten
Terentii, Virgils, Horatii und Juvenalis bekannt und ge-
laͤufig gemacht; wer den Boileau, Racine, Corneille und
Moliere mit Verſtande geleſen, und ihre natuͤrliche Schoͤn-
heit der Gedancken kennen gelernet: Wer endlich den Lon-
ginus, Bouhours, und Werenfels, (de meteoris orationis)
geleſen hat, der wird gewiß unmoͤglich auf eine ſo ſeltſame
Art des poetiſchen Ausdruckes verfallen: Geſetzt, daß er noch
ſo erhaben zu ſchreiben geſonnen waͤre.
Jch habe mich von meiner Hyperbole faſt allzuweit ab-
fuͤhren laſſen, indem ich dieſe Gelegenheit ergreifen wollen,
von einigen Fehlern der verbluͤmten Schreibart zu handeln.
Solches gehoͤrte ohnedem in dieſes Capitel, und es iſt endlich
einerley, ob es hier oder gantz am Ende deſſelben zu ſtehen ge-
kommen. Mit der Verkleinerung, Litote oder Tapeinoſis
iſt es eben ſo bewandt. Sie ſagt allemahl weniger als in der
That wahr iſt; doch ſo, daß ſie dadurch in keinen Jrrthum
ſtuͤrtzet. Z. E. Guͤnther beſchreibt ſeine Armuth ſo:
Jch darf mich ohnedem voritzo nicht beſchweren,
Als lieſſen Tiſch und Schlaf mich wenig Zeit entbehren.
Fuͤnf Biſſen in den Mund, ſo iſt die Tafel gar;
Die Glieder auf die Banck, das Hals-Tuch um das Haar,
So bin ich in dem Bett und voͤllig ausgezogen.
Die Huͤffte glaubt es nicht, doch wird ſie offt betrogen.
Die Synecdoche ſetzt auch wohl zuweilen die gantze Art eines
Dinges vor eine beſondre Gattung deſſelben. Z. E. Das
Licht uͤberhaupt vor die Sonne:
Willkommen ſchoͤnes Licht!
Das aus dem Himmels-Punct der Abyſſinen
Jn
P 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/259>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.