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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vorrede.
cke nicht habe brauchen können. Jch hatte mir die Re-
gel gemacht, gar keinen lebenden Dichter zu tadeln oder
zu critisiren: daraus floß nun nothwendig die andre,
daß ich auch keinen loben müste; weil sonst diejenigen,
so ich übergangen hätte, solches Stillschweigen vor einen
Tadel würden gehalten haben. Es war also dieses der
sicherste Weg, mich weder einer Schmeicheley, noch des
Hasses oder Neides halber, verdächtig zu machen. Die
Nachkommen werden schon einem jeden sein Recht wie-
derfahren lassen; und ich werde deswegen doch einen je-
den nach seinen Verdiensten zu verehren wissen, auch bey
andrer Gelegenheit mich nicht entziehen, dieselben öffent-
lich zu rühmen.

Da ich übrigens die Poesie allezeit vor eine Brodt-
lose Kunst gehalten, so habe ich sie auch nur als ein Ne-
ben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf ge-
wandt, als ich von andern ernsthafftern Verrichtungen
erübern können. Sollte ich künftig noch eben so viel
Muße behalten: so dencke ich noch eine neue Ausgabe
der Wercke Virgilii zu Stande zu bringen, und zwar
auf eine bisher ungewöhnliche Art. Man hat, wie be-
kannt, drey hundert Jahre her sich bemühet, uns den
Text dieses Poeten durch Gegeneinanderhaltung der
alten Manuscripte so richtig zu liefern, als es möglich
gewesen: und daher sind alle die Auflagen mit Obser-
vationibus criticis, Lectionibus variantibus, No-
tis variorum, in vsum Delphini,
u. s. w. entstanden;
davon alle Buchläden voll sind. Andre die wohl sa-
hen, daß diese Ausgaben mehr vor critische Grübler,
als vor gemeine Leser waren, so sich aus der unendli-
chen Menge ihrer Anmerckungen offt keine einzige zu
Nutze machen konnten; gaben die alten Scribenten

mit

Vorrede.
cke nicht habe brauchen koͤnnen. Jch hatte mir die Re-
gel gemacht, gar keinen lebenden Dichter zu tadeln oder
zu critiſiren: daraus floß nun nothwendig die andre,
daß ich auch keinen loben muͤſte; weil ſonſt diejenigen,
ſo ich uͤbergangen haͤtte, ſolches Stillſchweigen vor einen
Tadel wuͤrden gehalten haben. Es war alſo dieſes der
ſicherſte Weg, mich weder einer Schmeicheley, noch des
Haſſes oder Neides halber, verdaͤchtig zu machen. Die
Nachkommen werden ſchon einem jeden ſein Recht wie-
derfahren laſſen; und ich werde deswegen doch einen je-
den nach ſeinen Verdienſten zu verehren wiſſen, auch bey
andrer Gelegenheit mich nicht entziehen, dieſelben oͤffent-
lich zu ruͤhmen.

Da ich uͤbrigens die Poeſie allezeit vor eine Brodt-
loſe Kunſt gehalten, ſo habe ich ſie auch nur als ein Ne-
ben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf ge-
wandt, als ich von andern ernſthafftern Verrichtungen
eruͤbern koͤnnen. Sollte ich kuͤnftig noch eben ſo viel
Muße behalten: ſo dencke ich noch eine neue Ausgabe
der Wercke Virgilii zu Stande zu bringen, und zwar
auf eine bisher ungewoͤhnliche Art. Man hat, wie be-
kannt, drey hundert Jahre her ſich bemuͤhet, uns den
Text dieſes Poeten durch Gegeneinanderhaltung der
alten Manuſcripte ſo richtig zu liefern, als es moͤglich
geweſen: und daher ſind alle die Auflagen mit Obſer-
vationibus criticis, Lectionibus variantibus, No-
tis variorum, in vſum Delphini,
u. ſ. w. entſtanden;
davon alle Buchlaͤden voll ſind. Andre die wohl ſa-
hen, daß dieſe Ausgaben mehr vor critiſche Gruͤbler,
als vor gemeine Leſer waren, ſo ſich aus der unendli-
chen Menge ihrer Anmerckungen offt keine einzige zu
Nutze machen konnten; gaben die alten Scribenten

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[0027] Vorrede. cke nicht habe brauchen koͤnnen. Jch hatte mir die Re- gel gemacht, gar keinen lebenden Dichter zu tadeln oder zu critiſiren: daraus floß nun nothwendig die andre, daß ich auch keinen loben muͤſte; weil ſonſt diejenigen, ſo ich uͤbergangen haͤtte, ſolches Stillſchweigen vor einen Tadel wuͤrden gehalten haben. Es war alſo dieſes der ſicherſte Weg, mich weder einer Schmeicheley, noch des Haſſes oder Neides halber, verdaͤchtig zu machen. Die Nachkommen werden ſchon einem jeden ſein Recht wie- derfahren laſſen; und ich werde deswegen doch einen je- den nach ſeinen Verdienſten zu verehren wiſſen, auch bey andrer Gelegenheit mich nicht entziehen, dieſelben oͤffent- lich zu ruͤhmen. Da ich uͤbrigens die Poeſie allezeit vor eine Brodt- loſe Kunſt gehalten, ſo habe ich ſie auch nur als ein Ne- ben-Werck getrieben, und nicht mehr Zeit darauf ge- wandt, als ich von andern ernſthafftern Verrichtungen eruͤbern koͤnnen. Sollte ich kuͤnftig noch eben ſo viel Muße behalten: ſo dencke ich noch eine neue Ausgabe der Wercke Virgilii zu Stande zu bringen, und zwar auf eine bisher ungewoͤhnliche Art. Man hat, wie be- kannt, drey hundert Jahre her ſich bemuͤhet, uns den Text dieſes Poeten durch Gegeneinanderhaltung der alten Manuſcripte ſo richtig zu liefern, als es moͤglich geweſen: und daher ſind alle die Auflagen mit Obſer- vationibus criticis, Lectionibus variantibus, No- tis variorum, in vſum Delphini, u. ſ. w. entſtanden; davon alle Buchlaͤden voll ſind. Andre die wohl ſa- hen, daß dieſe Ausgaben mehr vor critiſche Gruͤbler, als vor gemeine Leſer waren, ſo ſich aus der unendli- chen Menge ihrer Anmerckungen offt keine einzige zu Nutze machen konnten; gaben die alten Scribenten mit

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/27>, abgerufen am 03.12.2024.