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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
ser alte Criticus gesagt hat. Die Belustigung, die man
im Lesen eines Verses hat, fäll auch grossen theils weg,
wenn man siehet, daß er nicht vermögend ist, die Sprache
mit seinem Sylbenmaaße in guter Harmonie zu erhalten.
Horatz vergleichet einen guten Poeten mit einem Seiltän-
tzer. Was belustiget uns an einem solchen mehr, als daß
derselbe auf einem so schmalen Stege mit solcher Gewißheit
und Sicherheit einhergehet, ja gar die höchsten Lufftspringe
machet, die sonst jemand auf dem flachen Boden nicht ma-
chen könnte. Man gebe aber demselben nur einen Steg,
der eines Fußes breit ist; so gleich wird unsre Ergetzlichkeit
verschwinden; weil es keine so grosse Kunst mehr seyn wird,
darauf zu gehen. So ist es auch mit einem Versmacher
bewandt. Sein richtiges Sylbenmaaß ist das Seil, dar-
auf er ohne Fehltritt einher gehen muß? So offt er vor-
beytritt, ist es uns zuwieder; nicht anders, als wenn der
Seiltäntzer vom Seile fällt. Er muß gar die verwegensten
Sprünge in seinen Gedancken und Ausdrückungen machen
können, dabey man dencken sollte: nun würde er gewiß sei-
ner Richtschnur verfehlen! und doch wieder Vermuthen in
seinen engen Schrancken bleiben. Dadurch wird nun der
Leser überaus vergnüget. So bald man ihm aber eine
grössere Freyheit, die Sprache zu verstümmeln, verstattet;
wird es gar keine Kunst mehr seyn, Verse zu machen; und
man möchte ihm zuruffen, was Boileau von einem solchen
Stümper schreibt:

Il se tüe a rimer; que n'ecrit il en Prose?

"Er martert sich fast zu Tode über seinen Versen: warum
"schreibt er denn nicht lieber ungebundner Schreibart?"
Denn in der That ist es besser keine Verse als schlimme
zu machen und zu lesen, weil man sich ohne dieselbe gar wohl
behelfen kan. Horatius hat den Römischen Lucil und an-
dre alte Lateiner, die sich dergleichen Freyheit genommen,
in etlichen Satiren ausgelachet und verworfen: obgleich der
Pöbel, dem alles gleich viel ist, und der die regelmäßigen
Ausdrückungen von der unrichtigen nicht zu unterscheiden

weiß,
Q 3

Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
ſer alte Criticus geſagt hat. Die Beluſtigung, die man
im Leſen eines Verſes hat, faͤll auch groſſen theils weg,
wenn man ſiehet, daß er nicht vermoͤgend iſt, die Sprache
mit ſeinem Sylbenmaaße in guter Harmonie zu erhalten.
Horatz vergleichet einen guten Poeten mit einem Seiltaͤn-
tzer. Was beluſtiget uns an einem ſolchen mehr, als daß
derſelbe auf einem ſo ſchmalen Stege mit ſolcher Gewißheit
und Sicherheit einhergehet, ja gar die hoͤchſten Lufftſpringe
machet, die ſonſt jemand auf dem flachen Boden nicht ma-
chen koͤnnte. Man gebe aber demſelben nur einen Steg,
der eines Fußes breit iſt; ſo gleich wird unſre Ergetzlichkeit
verſchwinden; weil es keine ſo groſſe Kunſt mehr ſeyn wird,
darauf zu gehen. So iſt es auch mit einem Versmacher
bewandt. Sein richtiges Sylbenmaaß iſt das Seil, dar-
auf er ohne Fehltritt einher gehen muß? So offt er vor-
beytritt, iſt es uns zuwieder; nicht anders, als wenn der
Seiltaͤntzer vom Seile faͤllt. Er muß gar die verwegenſten
Spruͤnge in ſeinen Gedancken und Ausdruͤckungen machen
koͤnnen, dabey man dencken ſollte: nun wuͤrde er gewiß ſei-
ner Richtſchnur verfehlen! und doch wieder Vermuthen in
ſeinen engen Schrancken bleiben. Dadurch wird nun der
Leſer uͤberaus vergnuͤget. So bald man ihm aber eine
groͤſſere Freyheit, die Sprache zu verſtuͤmmeln, verſtattet;
wird es gar keine Kunſt mehr ſeyn, Verſe zu machen; und
man moͤchte ihm zuruffen, was Boileau von einem ſolchen
Stuͤmper ſchreibt:

Il ſe tüe à rimer; que n’ecrit il en Proſe?

„Er martert ſich faſt zu Tode uͤber ſeinen Verſen: warum
„ſchreibt er denn nicht lieber ungebundner Schreibart?„
Denn in der That iſt es beſſer keine Verſe als ſchlimme
zu machen und zu leſen, weil man ſich ohne dieſelbe gar wohl
behelfen kan. Horatius hat den Roͤmiſchen Lucil und an-
dre alte Lateiner, die ſich dergleichen Freyheit genommen,
in etlichen Satiren ausgelachet und verworfen: obgleich der
Poͤbel, dem alles gleich viel iſt, und der die regelmaͤßigen
Ausdruͤckungen von der unrichtigen nicht zu unterſcheiden

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Q 3
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[245/0273] Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen. ſer alte Criticus geſagt hat. Die Beluſtigung, die man im Leſen eines Verſes hat, faͤll auch groſſen theils weg, wenn man ſiehet, daß er nicht vermoͤgend iſt, die Sprache mit ſeinem Sylbenmaaße in guter Harmonie zu erhalten. Horatz vergleichet einen guten Poeten mit einem Seiltaͤn- tzer. Was beluſtiget uns an einem ſolchen mehr, als daß derſelbe auf einem ſo ſchmalen Stege mit ſolcher Gewißheit und Sicherheit einhergehet, ja gar die hoͤchſten Lufftſpringe machet, die ſonſt jemand auf dem flachen Boden nicht ma- chen koͤnnte. Man gebe aber demſelben nur einen Steg, der eines Fußes breit iſt; ſo gleich wird unſre Ergetzlichkeit verſchwinden; weil es keine ſo groſſe Kunſt mehr ſeyn wird, darauf zu gehen. So iſt es auch mit einem Versmacher bewandt. Sein richtiges Sylbenmaaß iſt das Seil, dar- auf er ohne Fehltritt einher gehen muß? So offt er vor- beytritt, iſt es uns zuwieder; nicht anders, als wenn der Seiltaͤntzer vom Seile faͤllt. Er muß gar die verwegenſten Spruͤnge in ſeinen Gedancken und Ausdruͤckungen machen koͤnnen, dabey man dencken ſollte: nun wuͤrde er gewiß ſei- ner Richtſchnur verfehlen! und doch wieder Vermuthen in ſeinen engen Schrancken bleiben. Dadurch wird nun der Leſer uͤberaus vergnuͤget. So bald man ihm aber eine groͤſſere Freyheit, die Sprache zu verſtuͤmmeln, verſtattet; wird es gar keine Kunſt mehr ſeyn, Verſe zu machen; und man moͤchte ihm zuruffen, was Boileau von einem ſolchen Stuͤmper ſchreibt: Il ſe tüe à rimer; que n’ecrit il en Proſe? „Er martert ſich faſt zu Tode uͤber ſeinen Verſen: warum „ſchreibt er denn nicht lieber ungebundner Schreibart?„ Denn in der That iſt es beſſer keine Verſe als ſchlimme zu machen und zu leſen, weil man ſich ohne dieſelbe gar wohl behelfen kan. Horatius hat den Roͤmiſchen Lucil und an- dre alte Lateiner, die ſich dergleichen Freyheit genommen, in etlichen Satiren ausgelachet und verworfen: obgleich der Poͤbel, dem alles gleich viel iſt, und der die regelmaͤßigen Ausdruͤckungen von der unrichtigen nicht zu unterſcheiden weiß, Q 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/273>, abgerufen am 24.11.2024.