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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das X. Capitel

Folgende Art ist noch gewöhnlicher, da man etwas leug-
nend aus dem Wege räumt, um etwas anders festzusetzen.
Besser erklärt uns so, was er an Callisten verlohren habe:

Jch klage nicht an ihr die prächtige Gestalt,
Die Anmuth des Gesichts, des Mundes Morgen-Rosen,
Der Augen holden Ernst gebietend liebzukosen.
Jhr langgekrolltes Haar, das meine Sinnen band,
Die Schwanenweiße Brust, die Atlasweiche Hand,
Nicht die Geschicklichkeit der schlanckpolirten Glieder;
Verhängniß, gieb sie mir nur ungestalter wieder!
Jch klage bloß an ihr, was keine Misgunst sieht,
Jhr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemüth,
Den Englischen Verstand, die Sorgfalt mir in allen,
Vergnügt in Lieb und Leid, beständig zu gefallen.

Die XVIte Figur ist das Gleichniß (Simile), wodurch
man anstatt von der Haupt-Sache zu reden, von einer an-
dern ähnlichen zu sprechen anfängt, um die erstere dadurch
ins volle Licht zu setzen. Z. E. Amthor hat aus dem IVten
Buch der Eneis das Gleichniß von dem verroundeten Hirsch
folgendermaßen übersetzt: p. 481.

Die arme Dido brennt, sie läuft durch alle Gassen,
Und kan sich selbst nicht mehr in der Verwirrung fassen.
Wie, wenn durch Cretens Busch des Hirtens blinder Schuß
Der Hindin sichre Brust gar plötzlich rühren muß,
Und jener selbst nicht weiß, was seine Faust verrichtet,
Da doch das arme Wild durch Holtz und Felder flüchtet,
Und mit der bangen Flucht Dictäens Wälder schreckt,
Obschon ihm Tod und Pfeil in seiner Seiten steckt.

Hier ist das Gleichniß der Haupt-Sache nachgesetzt. Jn
dem folgenden aber, so ich aus Canitzen nehmen will, steht
es vorn, und die Deutung wird zuletzt gemacht.

Wenn der geringste Lerm im nechstgelegnen Wald
Um eine stille Trifft der blöden Schaafe schallt.
Und eins erst schüchtern wird; beginnt ein gantzer Haufen,
Durch Blatt, Gebüsch und Strauch dem Flüchtling nachzulaufen.
So traut das kluge Thier, der Mensch, ihm selber nicht,
Sein eigner Tacht verglimmt, er folget fremdem Licht,
Dadurch verirrt er sich etc.
Der
Das X. Capitel

Folgende Art iſt noch gewoͤhnlicher, da man etwas leug-
nend aus dem Wege raͤumt, um etwas anders feſtzuſetzen.
Beſſer erklaͤrt uns ſo, was er an Calliſten verlohren habe:

Jch klage nicht an ihr die praͤchtige Geſtalt,
Die Anmuth des Geſichts, des Mundes Morgen-Roſen,
Der Augen holden Ernſt gebietend liebzukoſen.
Jhr langgekrolltes Haar, das meine Sinnen band,
Die Schwanenweiße Bruſt, die Atlasweiche Hand,
Nicht die Geſchicklichkeit der ſchlanckpolirten Glieder;
Verhaͤngniß, gieb ſie mir nur ungeſtalter wieder!
Jch klage bloß an ihr, was keine Misgunſt ſieht,
Jhr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemuͤth,
Den Engliſchen Verſtand, die Sorgfalt mir in allen,
Vergnuͤgt in Lieb und Leid, beſtaͤndig zu gefallen.

Die XVIte Figur iſt das Gleichniß (Simile), wodurch
man anſtatt von der Haupt-Sache zu reden, von einer an-
dern aͤhnlichen zu ſprechen anfaͤngt, um die erſtere dadurch
ins volle Licht zu ſetzen. Z. E. Amthor hat aus dem IVten
Buch der Eneis das Gleichniß von dem verroundeten Hirſch
folgendermaßen uͤberſetzt: p. 481.

Die arme Dido brennt, ſie laͤuft durch alle Gaſſen,
Und kan ſich ſelbſt nicht mehr in der Verwirrung faſſen.
Wie, wenn durch Cretens Buſch des Hirtens blinder Schuß
Der Hindin ſichre Bruſt gar ploͤtzlich ruͤhren muß,
Und jener ſelbſt nicht weiß, was ſeine Fauſt verrichtet,
Da doch das arme Wild durch Holtz und Felder fluͤchtet,
Und mit der bangen Flucht Dictaͤens Waͤlder ſchreckt,
Obſchon ihm Tod und Pfeil in ſeiner Seiten ſteckt.

Hier iſt das Gleichniß der Haupt-Sache nachgeſetzt. Jn
dem folgenden aber, ſo ich aus Canitzen nehmen will, ſteht
es vorn, und die Deutung wird zuletzt gemacht.

Wenn der geringſte Lerm im nechſtgelegnen Wald
Um eine ſtille Trifft der bloͤden Schaafe ſchallt.
Und eins erſt ſchuͤchtern wird; beginnt ein gantzer Haufen,
Durch Blatt, Gebuͤſch und Strauch dem Fluͤchtling nachzulaufen.
So traut das kluge Thier, der Menſch, ihm ſelber nicht,
Sein eigner Tacht verglimmt, er folget fremdem Licht,
Dadurch verirrt er ſich ꝛc.
Der
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[272/0300] Das X. Capitel Folgende Art iſt noch gewoͤhnlicher, da man etwas leug- nend aus dem Wege raͤumt, um etwas anders feſtzuſetzen. Beſſer erklaͤrt uns ſo, was er an Calliſten verlohren habe: Jch klage nicht an ihr die praͤchtige Geſtalt, Die Anmuth des Geſichts, des Mundes Morgen-Roſen, Der Augen holden Ernſt gebietend liebzukoſen. Jhr langgekrolltes Haar, das meine Sinnen band, Die Schwanenweiße Bruſt, die Atlasweiche Hand, Nicht die Geſchicklichkeit der ſchlanckpolirten Glieder; Verhaͤngniß, gieb ſie mir nur ungeſtalter wieder! Jch klage bloß an ihr, was keine Misgunſt ſieht, Jhr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemuͤth, Den Engliſchen Verſtand, die Sorgfalt mir in allen, Vergnuͤgt in Lieb und Leid, beſtaͤndig zu gefallen. Die XVIte Figur iſt das Gleichniß (Simile), wodurch man anſtatt von der Haupt-Sache zu reden, von einer an- dern aͤhnlichen zu ſprechen anfaͤngt, um die erſtere dadurch ins volle Licht zu ſetzen. Z. E. Amthor hat aus dem IVten Buch der Eneis das Gleichniß von dem verroundeten Hirſch folgendermaßen uͤberſetzt: p. 481. Die arme Dido brennt, ſie laͤuft durch alle Gaſſen, Und kan ſich ſelbſt nicht mehr in der Verwirrung faſſen. Wie, wenn durch Cretens Buſch des Hirtens blinder Schuß Der Hindin ſichre Bruſt gar ploͤtzlich ruͤhren muß, Und jener ſelbſt nicht weiß, was ſeine Fauſt verrichtet, Da doch das arme Wild durch Holtz und Felder fluͤchtet, Und mit der bangen Flucht Dictaͤens Waͤlder ſchreckt, Obſchon ihm Tod und Pfeil in ſeiner Seiten ſteckt. Hier iſt das Gleichniß der Haupt-Sache nachgeſetzt. Jn dem folgenden aber, ſo ich aus Canitzen nehmen will, ſteht es vorn, und die Deutung wird zuletzt gemacht. Wenn der geringſte Lerm im nechſtgelegnen Wald Um eine ſtille Trifft der bloͤden Schaafe ſchallt. Und eins erſt ſchuͤchtern wird; beginnt ein gantzer Haufen, Durch Blatt, Gebuͤſch und Strauch dem Fluͤchtling nachzulaufen. So traut das kluge Thier, der Menſch, ihm ſelber nicht, Sein eigner Tacht verglimmt, er folget fremdem Licht, Dadurch verirrt er ſich ꝛc. Der

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/300>, abgerufen am 24.11.2024.