kan. Es wird darinn ein Abwesender oder gar ein Todter redend eingeführet, und dieses muß mit vieler Kunst auch nur im grösten Affecte geschehen. Denn wie es viel Nach- druck hat, wenn es wohl geräth, und als was ausseror- dentliches den Zuhörer in Erstaunen setzt; so kommt es auch sehr kalt und lächerlich heraus, wenn es ungeschickt bewerck- stelliget wird. Ein Exempel giebt mir Opitz, der im II. B. seiner Trost-Gedichte den Ulysses so redend einführet:
O! sagt er, schwimme fort, was nicht will bey mir halten, Mein Hertze, mein Bestand soll doch mit mir veralten. Mein unerschöpfter Muth, mein guter treuer Rath, Der nicht ein kleines Theil gethan vor Troja hat. Der bleibt so lang als ich. Laß alles von mir laufen, Bunt über Ecke gehn, Freund, Gut, Knecht, Schiff ersaufen; Es muß seyn ausgelegt, dieß ist der Reise Zoll: Um mich, und meinen Sinn steht alles recht und wohl. Das Unglück hat mir ja von außen was genommen, Zum Hertzen aber ist es mir so wenig kommen, So wenig als das Meer, das leichter diese Welt, Als mein Gemüthe mir wird haben umgefällt. So bricht der große Mann, der Held etc.
Canitz giebt mir eben dergleichen Exempel in der Ode auf seine Doris, welche er in der letzten Strophe redend ein- führet:
Wie geschicht mir? darf ich trauen? O du angenehmes Grauen! Hör ich meine Doris nicht, Die mit holder Stimme spricht: "Nur drey Worte darf ich sagen, "Jch weiß, daß du traurig bist: "Folge mir, vergiß dein Klagen, "Weil dich Doris nicht vergißt.
Ferner zehlt Lami unter die Figuren auch XX. die Denck- und Lehr-Sprüche. Dieses sind allgemeine Sätze, die bey Gelegenheit besondrer Fälle angebracht werden, und nützliche Regeln, kluge Sittenlehren, oder sonst sinnreiche und kurtzgefaßte Aussprüche in sich halten. Zuweilen sind sie etwas weitläuftiger, und könnten Betrachtungen heißen, Z. E. Tscherning schreibt p. 166.
Dein
S 2
Von den Figuren in der Poeſie.
kan. Es wird darinn ein Abweſender oder gar ein Todter redend eingefuͤhret, und dieſes muß mit vieler Kunſt auch nur im groͤſten Affecte geſchehen. Denn wie es viel Nach- druck hat, wenn es wohl geraͤth, und als was auſſeror- dentliches den Zuhoͤrer in Erſtaunen ſetzt; ſo kommt es auch ſehr kalt und laͤcherlich heraus, wenn es ungeſchickt bewerck- ſtelliget wird. Ein Exempel giebt mir Opitz, der im II. B. ſeiner Troſt-Gedichte den Ulyſſes ſo redend einfuͤhret:
O! ſagt er, ſchwimme fort, was nicht will bey mir halten, Mein Hertze, mein Beſtand ſoll doch mit mir veralten. Mein unerſchoͤpfter Muth, mein guter treuer Rath, Der nicht ein kleines Theil gethan vor Troja hat. Der bleibt ſo lang als ich. Laß alles von mir laufen, Bunt uͤber Ecke gehn, Freund, Gut, Knecht, Schiff erſaufen; Es muß ſeyn ausgelegt, dieß iſt der Reiſe Zoll: Um mich, und meinen Sinn ſteht alles recht und wohl. Das Ungluͤck hat mir ja von außen was genommen, Zum Hertzen aber iſt es mir ſo wenig kommen, So wenig als das Meer, das leichter dieſe Welt, Als mein Gemuͤthe mir wird haben umgefaͤllt. So bricht der große Mann, der Held ꝛc.
Canitz giebt mir eben dergleichen Exempel in der Ode auf ſeine Doris, welche er in der letzten Strophe redend ein- fuͤhret:
Wie geſchicht mir? darf ich trauen? O du angenehmes Grauen! Hoͤr ich meine Doris nicht, Die mit holder Stimme ſpricht: „Nur drey Worte darf ich ſagen, „Jch weiß, daß du traurig biſt: „Folge mir, vergiß dein Klagen, „Weil dich Doris nicht vergißt.
Ferner zehlt Lami unter die Figuren auch XX. die Denck- und Lehr-Spruͤche. Dieſes ſind allgemeine Saͤtze, die bey Gelegenheit beſondrer Faͤlle angebracht werden, und nuͤtzliche Regeln, kluge Sittenlehren, oder ſonſt ſinnreiche und kurtzgefaßte Ausſpruͤche in ſich halten. Zuweilen ſind ſie etwas weitlaͤuftiger, und koͤnnten Betrachtungen heißen, Z. E. Tſcherning ſchreibt p. 166.
Dein
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Von den Figuren in der Poeſie.
kan. Es wird darinn ein Abweſender oder gar ein Todter
redend eingefuͤhret, und dieſes muß mit vieler Kunſt auch
nur im groͤſten Affecte geſchehen. Denn wie es viel Nach-
druck hat, wenn es wohl geraͤth, und als was auſſeror-
dentliches den Zuhoͤrer in Erſtaunen ſetzt; ſo kommt es auch
ſehr kalt und laͤcherlich heraus, wenn es ungeſchickt bewerck-
ſtelliget wird. Ein Exempel giebt mir Opitz, der im II.
B. ſeiner Troſt-Gedichte den Ulyſſes ſo redend einfuͤhret:
O! ſagt er, ſchwimme fort, was nicht will bey mir halten,
Mein Hertze, mein Beſtand ſoll doch mit mir veralten.
Mein unerſchoͤpfter Muth, mein guter treuer Rath,
Der nicht ein kleines Theil gethan vor Troja hat.
Der bleibt ſo lang als ich. Laß alles von mir laufen,
Bunt uͤber Ecke gehn, Freund, Gut, Knecht, Schiff erſaufen;
Es muß ſeyn ausgelegt, dieß iſt der Reiſe Zoll:
Um mich, und meinen Sinn ſteht alles recht und wohl.
Das Ungluͤck hat mir ja von außen was genommen,
Zum Hertzen aber iſt es mir ſo wenig kommen,
So wenig als das Meer, das leichter dieſe Welt,
Als mein Gemuͤthe mir wird haben umgefaͤllt.
So bricht der große Mann, der Held ꝛc.
Canitz giebt mir eben dergleichen Exempel in der Ode auf
ſeine Doris, welche er in der letzten Strophe redend ein-
fuͤhret:
Wie geſchicht mir? darf ich trauen?
O du angenehmes Grauen!
Hoͤr ich meine Doris nicht,
Die mit holder Stimme ſpricht:
„Nur drey Worte darf ich ſagen,
„Jch weiß, daß du traurig biſt:
„Folge mir, vergiß dein Klagen,
„Weil dich Doris nicht vergißt.
Ferner zehlt Lami unter die Figuren auch XX. die Denck-
und Lehr-Spruͤche. Dieſes ſind allgemeine Saͤtze, die
bey Gelegenheit beſondrer Faͤlle angebracht werden, und
nuͤtzliche Regeln, kluge Sittenlehren, oder ſonſt ſinnreiche
und kurtzgefaßte Ausſpruͤche in ſich halten. Zuweilen ſind
ſie etwas weitlaͤuftiger, und koͤnnten Betrachtungen heißen,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/303>, abgerufen am 24.11.2024.
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