linaris, Martianus Capella, Tertullianus sind unter den ältern; Barclajus aber und unzehliche andre, die in leben- digen Sprachen auch in neuern Zeiten geschrieben, un- ter diejenigen gezehlet worden, die nicht nur poetisch, son- dern gantz hochtrabend, schwülstig, ja unsinnig gedacht und geschrieben haben. Wer die Proben von ihrer Schreib- art beysammen sehen will, darf nur Werenfelßens Dissert. de Meteoris nachschlagen, die hier einem jeden unentbehr- lich ist.
Nachdem wir nun einmahl wissen, worinn die poeti- sche Schreibart besteht, so müssen wir sie auch in ihre Clas- sen eintheilen. Jch darf aber auch hier nur bey den dreyen Arten bleiben, die ich in meiner Redekunst schon angege- ben: nehmlich eine ist die natürliche und niedrige; die an- dre ist die sinnreiche, hohe, scharfsinnige oder geistreiche; und die dritte die pathetische, feurige, affectuöse oder heff- tige Schreibart. Alle drey müssen wir erklären, mit E- xempeln erläutern, und von ihren Affter-Schwestern un- terscheiden lehren.
Die natürliche oder niedrige Schreibart eines Poeten unterscheidet sich zwar von der ungebundenen Rede, durch einige oben benannte Zierrathe der Gedancken; doch erhebt sie sich nicht sehr, verschwendet ihre Blumen nicht, sondern ist mit einem mäßigen Putze zufrieden. Jhr eigentlicher Sitz ist in poetischen Erzehlungen, in Briefen, in Satiren, in Lehr-Gedichten, imgleichen in Gesprächen; wenn die Beschaffenheit der Personen, die sich mit einander bespre- chen, es zuläßt, daß sie besser reden mögen, als man insgemein spricht. Ein Exempel von Erzehlungen giebt uns Canitz in seiner Fabel auf die Tadelsucht:
Merck auf, ich bitte dich, wies jenem Alten gieng, Der um die Welt zu sehn, noch an zu wandern fieng. Sein Esel war sein Pferd, sein Sohn war sein Gefehrte, Doch als der sanfte Ritt kaum eine Stunde währte, Da rief ein Reisender ihn unterwegens an: Was hat euch immermehr das arme Kind gethan, Daß ihrs laßt neben euch mit schwachen Füssen traben? Drum stieg der Vater ab und wich dem müden Knaben.
Doch
T
Von der poetiſchen Schreibart.
linaris, Martianus Capella, Tertullianus ſind unter den aͤltern; Barclajus aber und unzehliche andre, die in leben- digen Sprachen auch in neuern Zeiten geſchrieben, un- ter diejenigen gezehlet worden, die nicht nur poetiſch, ſon- dern gantz hochtrabend, ſchwuͤlſtig, ja unſinnig gedacht und geſchrieben haben. Wer die Proben von ihrer Schreib- art beyſammen ſehen will, darf nur Werenfelßens Diſſert. de Meteoris nachſchlagen, die hier einem jeden unentbehr- lich iſt.
Nachdem wir nun einmahl wiſſen, worinn die poeti- ſche Schreibart beſteht, ſo muͤſſen wir ſie auch in ihre Claſ- ſen eintheilen. Jch darf aber auch hier nur bey den dreyen Arten bleiben, die ich in meiner Redekunſt ſchon angege- ben: nehmlich eine iſt die natuͤrliche und niedrige; die an- dre iſt die ſinnreiche, hohe, ſcharfſinnige oder geiſtreiche; und die dritte die pathetiſche, feurige, affectuoͤſe oder heff- tige Schreibart. Alle drey muͤſſen wir erklaͤren, mit E- xempeln erlaͤutern, und von ihren Affter-Schweſtern un- terſcheiden lehren.
Die natuͤrliche oder niedrige Schreibart eines Poeten unterſcheidet ſich zwar von der ungebundenen Rede, durch einige oben benannte Zierrathe der Gedancken; doch erhebt ſie ſich nicht ſehr, verſchwendet ihre Blumen nicht, ſondern iſt mit einem maͤßigen Putze zufrieden. Jhr eigentlicher Sitz iſt in poetiſchen Erzehlungen, in Briefen, in Satiren, in Lehr-Gedichten, imgleichen in Geſpraͤchen; wenn die Beſchaffenheit der Perſonen, die ſich mit einander beſpre- chen, es zulaͤßt, daß ſie beſſer reden moͤgen, als man insgemein ſpricht. Ein Exempel von Erzehlungen giebt uns Canitz in ſeiner Fabel auf die Tadelſucht:
Merck auf, ich bitte dich, wies jenem Alten gieng, Der um die Welt zu ſehn, noch an zu wandern fieng. Sein Eſel war ſein Pferd, ſein Sohn war ſein Gefehrte, Doch als der ſanfte Ritt kaum eine Stunde waͤhrte, Da rief ein Reiſender ihn unterwegens an: Was hat euch immermehr das arme Kind gethan, Daß ihrs laßt neben euch mit ſchwachen Fuͤſſen traben? Drum ſtieg der Vater ab und wich dem muͤden Knaben.
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Von der poetiſchen Schreibart.
linaris, Martianus Capella, Tertullianus ſind unter den
aͤltern; Barclajus aber und unzehliche andre, die in leben-
digen Sprachen auch in neuern Zeiten geſchrieben, un-
ter diejenigen gezehlet worden, die nicht nur poetiſch, ſon-
dern gantz hochtrabend, ſchwuͤlſtig, ja unſinnig gedacht
und geſchrieben haben. Wer die Proben von ihrer Schreib-
art beyſammen ſehen will, darf nur Werenfelßens Diſſert.
de Meteoris nachſchlagen, die hier einem jeden unentbehr-
lich iſt.
Nachdem wir nun einmahl wiſſen, worinn die poeti-
ſche Schreibart beſteht, ſo muͤſſen wir ſie auch in ihre Claſ-
ſen eintheilen. Jch darf aber auch hier nur bey den dreyen
Arten bleiben, die ich in meiner Redekunſt ſchon angege-
ben: nehmlich eine iſt die natuͤrliche und niedrige; die an-
dre iſt die ſinnreiche, hohe, ſcharfſinnige oder geiſtreiche;
und die dritte die pathetiſche, feurige, affectuoͤſe oder heff-
tige Schreibart. Alle drey muͤſſen wir erklaͤren, mit E-
xempeln erlaͤutern, und von ihren Affter-Schweſtern un-
terſcheiden lehren.
Die natuͤrliche oder niedrige Schreibart eines Poeten
unterſcheidet ſich zwar von der ungebundenen Rede, durch
einige oben benannte Zierrathe der Gedancken; doch erhebt
ſie ſich nicht ſehr, verſchwendet ihre Blumen nicht, ſondern
iſt mit einem maͤßigen Putze zufrieden. Jhr eigentlicher
Sitz iſt in poetiſchen Erzehlungen, in Briefen, in Satiren,
in Lehr-Gedichten, imgleichen in Geſpraͤchen; wenn die
Beſchaffenheit der Perſonen, die ſich mit einander beſpre-
chen, es zulaͤßt, daß ſie beſſer reden moͤgen, als man insgemein
ſpricht. Ein Exempel von Erzehlungen giebt uns Canitz in
ſeiner Fabel auf die Tadelſucht:
Merck auf, ich bitte dich, wies jenem Alten gieng,
Der um die Welt zu ſehn, noch an zu wandern fieng.
Sein Eſel war ſein Pferd, ſein Sohn war ſein Gefehrte,
Doch als der ſanfte Ritt kaum eine Stunde waͤhrte,
Da rief ein Reiſender ihn unterwegens an:
Was hat euch immermehr das arme Kind gethan,
Daß ihrs laßt neben euch mit ſchwachen Fuͤſſen traben?
Drum ſtieg der Vater ab und wich dem muͤden Knaben.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/317>, abgerufen am 24.11.2024.
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