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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der poetischen Schreibart.
als daß ihre Schreibart einer vernünftigen Erzehlung ähn-
lich sehen solte. Sie gehen immer auf Steltzen, ja mit
Horatio kan man von ihnen sagen:

Nubes & inania captant.

Wir wollen doch den Anfang ihrer Gedichte ansehen, um
uns durch den Augenschein selbst überführen zu lassen.

Bella per Emathios plus quam ciuilia campos,
Jusque datum sceleri canimus, populumque potentem
In sua victrici conuersum viscera dextra,
Cognatasque acies; & rupto foedere regni
Certatum, totis concussi viribus orbis
In commune nefas; infestisque obuia signis
Signa, pares aquilas, & pila minantia pilis.
Quis furor? o Ciues! quae tanta licentia ferri
Gentibus inuisis Latium praebere cruorem?
Cumque superba foret Babylon spolianda tropaeis
Ausoniis, umbraque erraret Crassus inulta,
Bella geri placuit nullos habitura triumphos.
Heu quantum potuit terrae pelagique parari,
Hoc quem ciuiles hauserunt sanguine dextrae!
Vnde venit Titan &c.

Jn eben der aufgeblasenen und unnatürlichen Schreibart
fährt der Poet unaufhörlich fort. Das macht, er hat lau-
ter übersteigende Gedancken, seltsame Vorstellungen von
gewöhnlichen und gemeinen Dingen, gesuchte Gegensätze,
starcke Figuren u. s. w. welches sich alles vor Erzehlungen
nicht schickt. Von Statio und Claudiano habe ich schon
p. 22. in den Anmerckungen zu Horatii Dichtkunst die Pro-
ben angeführet, welche Stelle man nachschlagen kan.

Es ist nicht zu leugnen, daß nicht in dieser Schreibart, son-
derlich Lucans, viel Feuer, Einbildungs-Krafft und Zierrathe
zusammen gehäufet anzutreffen seyn sollten. Dieses kan man
den Bewunderern desselben einräumen, ohne deßwegen auf
ihre Seite zu treten. Es fragt sich nur, ob dieses alles mit
Verstande und an dem rechten Orte angebracht worden?
Helden-Gedichte müssen entweder keine Erzehlungen seyn,
oder, die Schreibart derselben muß anders eingerichtet wer-
den, als Lucan sie eingerichtet hat.

Was
T 2

Von der poetiſchen Schreibart.
als daß ihre Schreibart einer vernuͤnftigen Erzehlung aͤhn-
lich ſehen ſolte. Sie gehen immer auf Steltzen, ja mit
Horatio kan man von ihnen ſagen:

Nubes & inania captant.

Wir wollen doch den Anfang ihrer Gedichte anſehen, um
uns durch den Augenſchein ſelbſt uͤberfuͤhren zu laſſen.

Bella per Emathios plus quam ciuilia campos,
Jusque datum ſceleri canimus, populumque potentem
In ſua victrici conuerſum viſcera dextra,
Cognatasque acies; & rupto foedere regni
Certatum, totis concuſſi viribus orbis
In commune nefas; infeſtisque obuia ſignis
Signa, pares aquilas, & pila minantia pilis.
Quis furor? o Ciues! quæ tanta licentia ferri
Gentibus inuiſis Latium praebere cruorem?
Cumque ſuperba foret Babylon ſpolianda tropaeis
Auſoniis, umbraque erraret Craſſus inulta,
Bella geri placuit nullos habitura triumphos.
Heu quantum potuit terrae pelagique parari,
Hoc quem ciuiles hauſerunt ſanguine dextrae!
Vnde venit Titan &c.

Jn eben der aufgeblaſenen und unnatuͤrlichen Schreibart
faͤhrt der Poet unaufhoͤrlich fort. Das macht, er hat lau-
ter uͤberſteigende Gedancken, ſeltſame Vorſtellungen von
gewoͤhnlichen und gemeinen Dingen, geſuchte Gegenſaͤtze,
ſtarcke Figuren u. ſ. w. welches ſich alles vor Erzehlungen
nicht ſchickt. Von Statio und Claudiano habe ich ſchon
p. 22. in den Anmerckungen zu Horatii Dichtkunſt die Pro-
ben angefuͤhret, welche Stelle man nachſchlagen kan.

Es iſt nicht zu leugnen, daß nicht in dieſer Schreibart, ſon-
derlich Lucans, viel Feuer, Einbildungs-Krafft und Zierrathe
zuſammen gehaͤufet anzutreffen ſeyn ſollten. Dieſes kan man
den Bewunderern deſſelben einraͤumen, ohne deßwegen auf
ihre Seite zu treten. Es fragt ſich nur, ob dieſes alles mit
Verſtande und an dem rechten Orte angebracht worden?
Helden-Gedichte muͤſſen entweder keine Erzehlungen ſeyn,
oder, die Schreibart derſelben muß anders eingerichtet wer-
den, als Lucan ſie eingerichtet hat.

Was
T 2
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[291/0319] Von der poetiſchen Schreibart. als daß ihre Schreibart einer vernuͤnftigen Erzehlung aͤhn- lich ſehen ſolte. Sie gehen immer auf Steltzen, ja mit Horatio kan man von ihnen ſagen: Nubes & inania captant. Wir wollen doch den Anfang ihrer Gedichte anſehen, um uns durch den Augenſchein ſelbſt uͤberfuͤhren zu laſſen. Bella per Emathios plus quam ciuilia campos, Jusque datum ſceleri canimus, populumque potentem In ſua victrici conuerſum viſcera dextra, Cognatasque acies; & rupto foedere regni Certatum, totis concuſſi viribus orbis In commune nefas; infeſtisque obuia ſignis Signa, pares aquilas, & pila minantia pilis. Quis furor? o Ciues! quæ tanta licentia ferri Gentibus inuiſis Latium praebere cruorem? Cumque ſuperba foret Babylon ſpolianda tropaeis Auſoniis, umbraque erraret Craſſus inulta, Bella geri placuit nullos habitura triumphos. Heu quantum potuit terrae pelagique parari, Hoc quem ciuiles hauſerunt ſanguine dextrae! Vnde venit Titan &c. Jn eben der aufgeblaſenen und unnatuͤrlichen Schreibart faͤhrt der Poet unaufhoͤrlich fort. Das macht, er hat lau- ter uͤberſteigende Gedancken, ſeltſame Vorſtellungen von gewoͤhnlichen und gemeinen Dingen, geſuchte Gegenſaͤtze, ſtarcke Figuren u. ſ. w. welches ſich alles vor Erzehlungen nicht ſchickt. Von Statio und Claudiano habe ich ſchon p. 22. in den Anmerckungen zu Horatii Dichtkunſt die Pro- ben angefuͤhret, welche Stelle man nachſchlagen kan. Es iſt nicht zu leugnen, daß nicht in dieſer Schreibart, ſon- derlich Lucans, viel Feuer, Einbildungs-Krafft und Zierrathe zuſammen gehaͤufet anzutreffen ſeyn ſollten. Dieſes kan man den Bewunderern deſſelben einraͤumen, ohne deßwegen auf ihre Seite zu treten. Es fragt ſich nur, ob dieſes alles mit Verſtande und an dem rechten Orte angebracht worden? Helden-Gedichte muͤſſen entweder keine Erzehlungen ſeyn, oder, die Schreibart derſelben muß anders eingerichtet wer- den, als Lucan ſie eingerichtet hat. Was T 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/319>, abgerufen am 24.11.2024.