Und Günther in dem Lob-Gedichte auf Augustum, schreibt von der Geschwindigkeit im Dichten:
Dies kan Lucil, ich auch. Allein ich seh und weiß, Wieviel Verstand und Witz, Gedult und Zeit und Fleiß Ein tüchtig Werck begehrt, so Kluge lüstern machen, Der Lorbern würdig seyn, der Neider Grimm verlachen Und ewig leben soll.
Wenn man sich nun dieser Freyheit mit Maaßen bedienet, denn kan man es uns vor keinen Fehler anrechnen. Wir halten dadurch das Mittel zwischen dem Zwange der Fran- zosen, und der gar zu grossen Frechheit der Jtaliäner und Engländer, die es in diesem Stücke den alten Lateinern nachthun.
Was endlich im Deutschen die Oden anlangt, so ge- hört vors erste dazu, daß sich mit jeder Strophe der volle Verstand schließe. Die alten Lateiner haben sich daran auch nicht gebunden. Jn den meisten Oden Horatii hen- gen etliche Strophen so an einander, daß man an dem En- de der einen gar nicht stille stehen kan. Da möchte ich nun gerne wissen, wie das nach ihrer Music im Singen geklungen. Bey uns klingt es nicht, wie wir aus etlichen altfränckischen Kirchen-Liedern sehen. Allein das ist noch nicht genug. Wenn die Strophen mehr als vier Zeilen haben, so kommt auch wohl mehr als ein Punct in derselben vor; und da fragt sichs, ob er überall stehen könne? Am Ende jeder Zeile zwar kan es niemanden gewehrt werden, den Verstand zu schliessen: Allein ausser dem giebt es in jeder Art der Abwechselung von Zeilen gewisse Stellen, wo die Puncte fürnehmlich hingehören. Doch das gehört ei- gentlich ins Capitel von Oden.
Dies ist nun das allgemeine, so ich vom Wohlklange der Poetischen Schreibart überhaupt habe sagen können. Besondre Anmerckungen muß sich ein jeder selbst machen. Die gemeinen Regeln von der Prosodie und den Reimen ha- be ich hier nicht abhandeln wollen. Sie stehen in so viel hun- dert Hand-Büchern, und ich setze zum voraus, daß man sich
diesel-
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Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
Und Guͤnther in dem Lob-Gedichte auf Auguſtum, ſchreibt von der Geſchwindigkeit im Dichten:
Dies kan Lucil, ich auch. Allein ich ſeh und weiß, Wieviel Verſtand und Witz, Gedult und Zeit und Fleiß Ein tuͤchtig Werck begehrt, ſo Kluge luͤſtern machen, Der Lorbern wuͤrdig ſeyn, der Neider Grimm verlachen Und ewig leben ſoll.
Wenn man ſich nun dieſer Freyheit mit Maaßen bedienet, denn kan man es uns vor keinen Fehler anrechnen. Wir halten dadurch das Mittel zwiſchen dem Zwange der Fran- zoſen, und der gar zu groſſen Frechheit der Jtaliaͤner und Englaͤnder, die es in dieſem Stuͤcke den alten Lateinern nachthun.
Was endlich im Deutſchen die Oden anlangt, ſo ge- hoͤrt vors erſte dazu, daß ſich mit jeder Strophe der volle Verſtand ſchließe. Die alten Lateiner haben ſich daran auch nicht gebunden. Jn den meiſten Oden Horatii hen- gen etliche Strophen ſo an einander, daß man an dem En- de der einen gar nicht ſtille ſtehen kan. Da moͤchte ich nun gerne wiſſen, wie das nach ihrer Muſic im Singen geklungen. Bey uns klingt es nicht, wie wir aus etlichen altfraͤnckiſchen Kirchen-Liedern ſehen. Allein das iſt noch nicht genug. Wenn die Strophen mehr als vier Zeilen haben, ſo kommt auch wohl mehr als ein Punct in derſelben vor; und da fragt ſichs, ob er uͤberall ſtehen koͤnne? Am Ende jeder Zeile zwar kan es niemanden gewehrt werden, den Verſtand zu ſchlieſſen: Allein auſſer dem giebt es in jeder Art der Abwechſelung von Zeilen gewiſſe Stellen, wo die Puncte fuͤrnehmlich hingehoͤren. Doch das gehoͤrt ei- gentlich ins Capitel von Oden.
Dies iſt nun das allgemeine, ſo ich vom Wohlklange der Poetiſchen Schreibart uͤberhaupt habe ſagen koͤnnen. Beſondre Anmerckungen muß ſich ein jeder ſelbſt machen. Die gemeinen Regeln von der Proſodie und den Reimen ha- be ich hier nicht abhandeln wollen. Sie ſtehen in ſo viel hun- dert Hand-Buͤchern, und ich ſetze zum voraus, daß man ſich
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Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
Und Guͤnther in dem Lob-Gedichte auf Auguſtum, ſchreibt
von der Geſchwindigkeit im Dichten:
Dies kan Lucil, ich auch. Allein ich ſeh und weiß,
Wieviel Verſtand und Witz, Gedult und Zeit und Fleiß
Ein tuͤchtig Werck begehrt, ſo Kluge luͤſtern machen,
Der Lorbern wuͤrdig ſeyn, der Neider Grimm verlachen
Und ewig leben ſoll.
Wenn man ſich nun dieſer Freyheit mit Maaßen bedienet,
denn kan man es uns vor keinen Fehler anrechnen. Wir
halten dadurch das Mittel zwiſchen dem Zwange der Fran-
zoſen, und der gar zu groſſen Frechheit der Jtaliaͤner und
Englaͤnder, die es in dieſem Stuͤcke den alten Lateinern
nachthun.
Was endlich im Deutſchen die Oden anlangt, ſo ge-
hoͤrt vors erſte dazu, daß ſich mit jeder Strophe der volle
Verſtand ſchließe. Die alten Lateiner haben ſich daran
auch nicht gebunden. Jn den meiſten Oden Horatii hen-
gen etliche Strophen ſo an einander, daß man an dem En-
de der einen gar nicht ſtille ſtehen kan. Da moͤchte ich
nun gerne wiſſen, wie das nach ihrer Muſic im Singen
geklungen. Bey uns klingt es nicht, wie wir aus etlichen
altfraͤnckiſchen Kirchen-Liedern ſehen. Allein das iſt noch
nicht genug. Wenn die Strophen mehr als vier Zeilen
haben, ſo kommt auch wohl mehr als ein Punct in derſelben
vor; und da fragt ſichs, ob er uͤberall ſtehen koͤnne? Am
Ende jeder Zeile zwar kan es niemanden gewehrt werden,
den Verſtand zu ſchlieſſen: Allein auſſer dem giebt es in
jeder Art der Abwechſelung von Zeilen gewiſſe Stellen, wo
die Puncte fuͤrnehmlich hingehoͤren. Doch das gehoͤrt ei-
gentlich ins Capitel von Oden.
Dies iſt nun das allgemeine, ſo ich vom Wohlklange
der Poetiſchen Schreibart uͤberhaupt habe ſagen koͤnnen.
Beſondre Anmerckungen muß ſich ein jeder ſelbſt machen.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/351>, abgerufen am 22.11.2024.
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