Wer merckt nicht überall die Liebe? Wer spürt nicht, daß durch ihre Triebe Das gantze Welt-Gebäu besteht? Denn daß es noch bisher nicht gar zu Grunde geht, Das macht der Liebe festes Band. Sie hemmet gantz allein der Sachen Unbestand.
Entfernet euch, ihr kalten Hertzen, Entfernet euch, ich bin euch feind. Wer nicht der Liebe Platz will geben, Der flieht sein Glück, der haßt das Leben, Und ist der ärgsten Thorheit Freund; Jhr wehlt euch selber nichts als Schmertzen[;] Entfernet euch, ihr kalten Hertzen, Entfernet euch, ich bin euch feind.
Die Schamhafftigkeit.
Wie das? o gütige Natur! Soll ich denn auch zur Liebes-Fahne schweren? Soll ich denn auch die stille Lockung hören, Die deine Krafft in mir erregt? Ach nein, Natur, ach nein! Die Liebe kan kein Kind der wahren Tugend seyn. Ach nein, ich glaub es nicht! Jch fühle, daß das Hertz mir schlägt, Das warme Blut erröthet meine Wangen, Wenn man zu mir vom Lieben spricht. Jch fühle zwar ein heimliches Verlangen; Doch deckt es sich mit steter Blödigkeit. Jch fürchte stets der Frechheit Netze, Und sorge, daß nicht mit der Zeit, Die wachsende Verwegenheit Die Regeln Göttlicher Gesetze, Durch diesen-schlauen Trieb verletze. Drum weg damit! ich höre nicht, Was die Natur vom Lieben spricht.
Unschuld, Kleinod reiner Seelen, Schmücke mich durch deine Pracht. Keine Läster, keine Flecken, Sollen mir das Liljen-Kleid Unberührter Reinigkeit, Durch der Liebe Schmutz bedecken, Der auch Schnee zu Dinte macht. Unschuld, Kleinod reiner Seelen, Schmücke mich durch deine Pracht.
Die
Des II Theils II Capitel
Wer merckt nicht uͤberall die Liebe? Wer ſpuͤrt nicht, daß durch ihre Triebe Das gantze Welt-Gebaͤu beſteht? Denn daß es noch bisher nicht gar zu Grunde geht, Das macht der Liebe feſtes Band. Sie hemmet gantz allein der Sachen Unbeſtand.
Entfernet euch, ihr kalten Hertzen, Entfernet euch, ich bin euch feind. Wer nicht der Liebe Platz will geben, Der flieht ſein Gluͤck, der haßt das Leben, Und iſt der aͤrgſten Thorheit Freund; Jhr wehlt euch ſelber nichts als Schmertzen[;] Entfernet euch, ihr kalten Hertzen, Entfernet euch, ich bin euch feind.
Die Schamhafftigkeit.
Wie das? o guͤtige Natur! Soll ich denn auch zur Liebes-Fahne ſchweren? Soll ich denn auch die ſtille Lockung hoͤren, Die deine Krafft in mir erregt? Ach nein, Natur, ach nein! Die Liebe kan kein Kind der wahren Tugend ſeyn. Ach nein, ich glaub es nicht! Jch fuͤhle, daß das Hertz mir ſchlaͤgt, Das warme Blut erroͤthet meine Wangen, Wenn man zu mir vom Lieben ſpricht. Jch fuͤhle zwar ein heimliches Verlangen; Doch deckt es ſich mit ſteter Bloͤdigkeit. Jch fuͤrchte ſtets der Frechheit Netze, Und ſorge, daß nicht mit der Zeit, Die wachſende Verwegenheit Die Regeln Goͤttlicher Geſetze, Durch dieſen-ſchlauen Trieb verletze. Drum weg damit! ich hoͤre nicht, Was die Natur vom Lieben ſpricht.
Unſchuld, Kleinod reiner Seelen, Schmuͤcke mich durch deine Pracht. Keine Laͤſter, keine Flecken, Sollen mir das Liljen-Kleid Unberuͤhrter Reinigkeit, Durch der Liebe Schmutz bedecken, Der auch Schnee zu Dinte macht. Unſchuld, Kleinod reiner Seelen, Schmuͤcke mich durch deine Pracht.
Die
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Des II Theils II Capitel
Wer merckt nicht uͤberall die Liebe?
Wer ſpuͤrt nicht, daß durch ihre Triebe
Das gantze Welt-Gebaͤu beſteht?
Denn daß es noch bisher nicht gar zu Grunde geht,
Das macht der Liebe feſtes Band.
Sie hemmet gantz allein der Sachen Unbeſtand.
Entfernet euch, ihr kalten Hertzen,
Entfernet euch, ich bin euch feind.
Wer nicht der Liebe Platz will geben,
Der flieht ſein Gluͤck, der haßt das Leben,
Und iſt der aͤrgſten Thorheit Freund;
Jhr wehlt euch ſelber nichts als Schmertzen;
Entfernet euch, ihr kalten Hertzen,
Entfernet euch, ich bin euch feind.
Die Schamhafftigkeit.
Wie das? o guͤtige Natur!
Soll ich denn auch zur Liebes-Fahne ſchweren?
Soll ich denn auch die ſtille Lockung hoͤren,
Die deine Krafft in mir erregt?
Ach nein, Natur, ach nein!
Die Liebe kan kein Kind der wahren Tugend ſeyn.
Ach nein, ich glaub es nicht!
Jch fuͤhle, daß das Hertz mir ſchlaͤgt,
Das warme Blut erroͤthet meine Wangen,
Wenn man zu mir vom Lieben ſpricht.
Jch fuͤhle zwar ein heimliches Verlangen;
Doch deckt es ſich mit ſteter Bloͤdigkeit.
Jch fuͤrchte ſtets der Frechheit Netze,
Und ſorge, daß nicht mit der Zeit,
Die wachſende Verwegenheit
Die Regeln Goͤttlicher Geſetze,
Durch dieſen-ſchlauen Trieb verletze.
Drum weg damit! ich hoͤre nicht,
Was die Natur vom Lieben ſpricht.
Unſchuld, Kleinod reiner Seelen,
Schmuͤcke mich durch deine Pracht.
Keine Laͤſter, keine Flecken,
Sollen mir das Liljen-Kleid
Unberuͤhrter Reinigkeit,
Durch der Liebe Schmutz bedecken,
Der auch Schnee zu Dinte macht.
Unſchuld, Kleinod reiner Seelen,
Schmuͤcke mich durch deine Pracht.
Die
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/400>, abgerufen am 26.06.2024.
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