Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Jhr Dichter, wagt doch nichts, als was ihr wohl versteht, Versuchts, wie weit die Krafst von euren Schultern geht, Und überlegt es wohl: so wird nach klugem wehlen, Den Schrifften weder Kunst, noch Licht, noch Ordnung fehlen. 55Mich dünckt, daß sich allda der Ordnung Schönheit zeigt, Wenn man das Wichtigste von forne zwar verschweigt, Doch Rätzelhafft entdeckt; und klüglich im Entscheiden Die schönsten Sachen wehlt, die schlechten weiß zu meiden. Jn neuer Wörter Bau, sey kein Poet zu kühn; 60Das ältste läßt sich offt auf neue Sachen ziehn, 57 57 59 60 Doch läßt er einen Herrn, der seine Knechte aushuntzet, die Musquete auf sie lösen, und dieselben zum Fenster hinaus steigen, ja einen Pariser Edelmann mit einem Woll- Wagen auf die Leipziger Messe kommen. Heißt das der Natur nachgeahmet? 57 Rätzelhafft entdeckt. Dieß geht wieder auf die grossen Arten der Gedichte. Ein Helden-Gedicht, und ein Theatralisch Stück meldet gleich von forne wovon es handeln wird, aber nur dunckel; damit nicht der Zuhörer Aufmercksamkeit ein Ende nehme, ehe alles aus ist. Die völlige Auflösung der gantzen Verwirrung muß gantz aufs letzte bleiben. Unsre Romanschreiber pflegen diese Regel ziemlich gut in Acht zu nehmen; wenn sie ihre Fabeln in der Mitten anfangen, und allmäh- lich das vorhergegangene nachholen. 57 Klüglich im Entscheiden. Eine kluge Wahl macht einen guten Poeten. Die ersten Einfälle find nicht immer die besten. Jn einer Haupt-Fabel können viel Neben-Fabeln vorkommen, aber sie sind nicht alle gleich gut. Der Poet muß einen Unterscheid zu machen wissen. 59 Zu kühn. Wieder diese Regel haben nicht nur die Zesianer und andre Gesellschaffter aus mancherley Orden in Deutschland auf eine lächerliche Art ge- sündiget: sondern es treten auch heutiges Tages noch viele in ihre Fußtapfen. Sie machen täglich ein paar Dutzend neue Wörter, und es kömmt kein Gedichte von ihnen zum Vorschein, darinn sie nicht, ihrer Meynung nach, die Sprache berei- chert hätten. 60 Das ältste etc. Die Fügung der Wörter giebt offt alten Wörtern einen
neuen Verstand: Wenn nun der Scribent sie so verbindet, daß man ohne Mühe sieht was er haben will, so ists gut. Der Grund-Text kan auch von der Zusammen- ziehung zweyer einfachen Wörter verstanden werden. Z. E. Banck und Sänger ist beydes bekannt: wenn ich aber einen schlechten Poeten einen Bänckel-Sänger nenne, so ist es neu. Die Lateiner pflegten dergleichen zu thun, aber die Griechen weit häufiger. Wir Deutschen haben die Freyheit auch, aber man muß das Ohr zu Rathe ziehen.
Jhr Dichter, wagt doch nichts, als was ihr wohl verſteht, Verſuchts, wie weit die Krafſt von euren Schultern geht, Und uͤberlegt es wohl: ſo wird nach klugem wehlen, Den Schrifften weder Kunſt, noch Licht, noch Ordnung fehlen. 55Mich duͤnckt, daß ſich allda der Ordnung Schoͤnheit zeigt, Wenn man das Wichtigſte von forne zwar verſchweigt, Doch Raͤtzelhafft entdeckt; und kluͤglich im Entſcheiden Die ſchoͤnſten Sachen wehlt, die ſchlechten weiß zu meiden. Jn neuer Woͤrter Bau, ſey kein Poet zu kuͤhn; 60Das aͤltſte laͤßt ſich offt auf neue Sachen ziehn, 57 57 59 60 Doch laͤßt er einen Herrn, der ſeine Knechte aushuntzet, die Muſquete auf ſie loͤſen, und dieſelben zum Fenſter hinaus ſteigen, ja einen Pariſer Edelmann mit einem Woll- Wagen auf die Leipziger Meſſe kommen. Heißt das der Natur nachgeahmet? 57 Rätzelhafft entdeckt. Dieß geht wieder auf die groſſen Arten der Gedichte. Ein Helden-Gedicht, und ein Theatraliſch Stuͤck meldet gleich von forne wovon es handeln wird, aber nur dunckel; damit nicht der Zuhoͤrer Aufmerckſamkeit ein Ende nehme, ehe alles aus iſt. Die voͤllige Aufloͤſung der gantzen Verwirrung muß gantz aufs letzte bleiben. Unſre Romanſchreiber pflegen dieſe Regel ziemlich gut in Acht zu nehmen; wenn ſie ihre Fabeln in der Mitten anfangen, und allmaͤh- lich das vorhergegangene nachholen. 57 Klüglich im Entſcheiden. Eine kluge Wahl macht einen guten Poeten. Die erſten Einfaͤlle find nicht immer die beſten. Jn einer Haupt-Fabel koͤnnen viel Neben-Fabeln vorkommen, aber ſie ſind nicht alle gleich gut. Der Poet muß einen Unterſcheid zu machen wiſſen. 59 Zu kühn. Wieder dieſe Regel haben nicht nur die Zeſianer und andre Geſellſchaffter aus mancherley Orden in Deutſchland auf eine laͤcherliche Art ge- ſuͤndiget: ſondern es treten auch heutiges Tages noch viele in ihre Fußtapfen. Sie machen taͤglich ein paar Dutzend neue Woͤrter, und es koͤmmt kein Gedichte von ihnen zum Vorſchein, darinn ſie nicht, ihrer Meynung nach, die Sprache berei- chert haͤtten. 60 Das ältſte ꝛc. Die Fuͤgung der Woͤrter giebt offt alten Woͤrtern einen
neuen Verſtand: Wenn nun der Scribent ſie ſo verbindet, daß man ohne Muͤhe ſieht was er haben will, ſo iſts gut. Der Grund-Text kan auch von der Zuſammen- ziehung zweyer einfachen Woͤrter verſtanden werden. Z. E. Banck und Saͤnger iſt beydes bekannt: wenn ich aber einen ſchlechten Poeten einen Baͤnckel-Saͤnger nenne, ſo iſt es neu. Die Lateiner pflegten dergleichen zu thun, aber die Griechen weit haͤufiger. Wir Deutſchen haben die Freyheit auch, aber man muß das Ohr zu Rathe ziehen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l> <pb facs="#f0041" n="13"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Weil Ordnung und Geſtalt und Stellung gar nichts taugen.</l><lb/> <l>Viel lieber wuͤnſch ich mir, bey ſchwartzem Haar und Augen,</l><lb/> <l>Ein ſcheußlich Angeſicht und krummes Naſenbein,<lb/><note place="left">50</note>Als daß ein Verß von mir, ſo wie dieß Bild ſoll ſeyn.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Jhr Dichter, wagt doch nichts, als was ihr wohl verſteht,</l><lb/> <l>Verſuchts, wie weit die Krafſt von euren Schultern geht,</l><lb/> <l>Und uͤberlegt es wohl: ſo wird nach klugem wehlen,</l><lb/> <l>Den Schrifften weder Kunſt, noch Licht, noch Ordnung fehlen.<lb/><note place="left">55</note>Mich duͤnckt, daß ſich allda der Ordnung Schoͤnheit zeigt,</l><lb/> <l>Wenn man das Wichtigſte von forne zwar verſchweigt,</l><lb/> <l>Doch Raͤtzelhafft entdeckt; und kluͤglich im Entſcheiden</l><lb/> <l>Die ſchoͤnſten Sachen wehlt, die ſchlechten weiß zu meiden.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Jn neuer Woͤrter Bau, ſey kein Poet zu kuͤhn;<lb/><note place="left">60</note>Das aͤltſte laͤßt ſich offt auf neue Sachen ziehn,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Doch</fw><lb/><note xml:id="f02" prev="#f01" place="foot" n="51">laͤßt er einen Herrn, der ſeine Knechte aushuntzet, die Muſquete auf ſie loͤſen, und<lb/> dieſelben zum Fenſter hinaus ſteigen, ja einen Pariſer Edelmann mit einem Woll-<lb/> Wagen auf die Leipziger Meſſe kommen. Heißt das der Natur nachgeahmet?</note><lb/><note place="foot" n="57"><hi rendition="#fr">Rätzelhafft entdeckt.</hi> Dieß geht wieder auf die groſſen Arten der Gedichte.<lb/> Ein Helden-Gedicht, und ein Theatraliſch Stuͤck meldet gleich von forne wovon es<lb/> handeln wird, aber nur dunckel; damit nicht der Zuhoͤrer Aufmerckſamkeit ein<lb/> Ende nehme, ehe alles aus iſt. Die voͤllige Aufloͤſung der gantzen Verwirrung<lb/> muß gantz aufs letzte bleiben. Unſre Romanſchreiber pflegen dieſe Regel ziemlich<lb/> gut in Acht zu nehmen; wenn ſie ihre Fabeln in der Mitten anfangen, und allmaͤh-<lb/> lich das vorhergegangene nachholen.</note><lb/><note place="foot" n="57"><hi rendition="#fr">Klüglich im Entſcheiden.</hi> Eine kluge Wahl macht einen guten Poeten.<lb/> Die erſten Einfaͤlle find nicht immer die beſten. Jn einer Haupt-Fabel koͤnnen viel<lb/> Neben-Fabeln vorkommen, aber ſie ſind nicht alle gleich gut. Der Poet muß einen<lb/> Unterſcheid zu machen wiſſen.</note><lb/><note place="foot" n="59"><hi rendition="#fr">Zu kühn.</hi> Wieder dieſe Regel haben nicht nur die Zeſianer und andre<lb/> Geſellſchaffter aus mancherley Orden in Deutſchland auf eine laͤcherliche Art ge-<lb/> ſuͤndiget: ſondern es treten auch heutiges Tages noch viele in ihre Fußtapfen. Sie<lb/> machen taͤglich ein paar Dutzend neue Woͤrter, und es koͤmmt kein Gedichte von<lb/> ihnen zum Vorſchein, darinn ſie nicht, ihrer Meynung nach, die Sprache berei-<lb/> chert haͤtten.</note><lb/><note place="foot" n="60"><hi rendition="#fr">Das ältſte ꝛc.</hi> Die Fuͤgung der Woͤrter giebt offt alten Woͤrtern einen<lb/> neuen Verſtand: Wenn nun der Scribent ſie ſo verbindet, daß man ohne Muͤhe<lb/> ſieht was er haben will, ſo iſts gut. Der Grund-Text kan auch von der Zuſammen-<lb/> ziehung zweyer einfachen Woͤrter verſtanden werden. Z. E. Banck und Saͤnger<lb/> iſt beydes bekannt: wenn ich aber einen ſchlechten Poeten einen Baͤnckel-Saͤnger<lb/> nenne, ſo iſt es neu. Die Lateiner pflegten dergleichen zu thun, aber die Griechen<lb/> weit haͤufiger. Wir Deutſchen haben die Freyheit auch, aber man muß das Ohr<lb/> zu Rathe ziehen.</note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0041]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Weil Ordnung und Geſtalt und Stellung gar nichts taugen.
Viel lieber wuͤnſch ich mir, bey ſchwartzem Haar und Augen,
Ein ſcheußlich Angeſicht und krummes Naſenbein,
Als daß ein Verß von mir, ſo wie dieß Bild ſoll ſeyn.
Jhr Dichter, wagt doch nichts, als was ihr wohl verſteht,
Verſuchts, wie weit die Krafſt von euren Schultern geht,
Und uͤberlegt es wohl: ſo wird nach klugem wehlen,
Den Schrifften weder Kunſt, noch Licht, noch Ordnung fehlen.
Mich duͤnckt, daß ſich allda der Ordnung Schoͤnheit zeigt,
Wenn man das Wichtigſte von forne zwar verſchweigt,
Doch Raͤtzelhafft entdeckt; und kluͤglich im Entſcheiden
Die ſchoͤnſten Sachen wehlt, die ſchlechten weiß zu meiden.
Jn neuer Woͤrter Bau, ſey kein Poet zu kuͤhn;
Das aͤltſte laͤßt ſich offt auf neue Sachen ziehn,
Doch
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51 laͤßt er einen Herrn, der ſeine Knechte aushuntzet, die Muſquete auf ſie loͤſen, und
dieſelben zum Fenſter hinaus ſteigen, ja einen Pariſer Edelmann mit einem Woll-
Wagen auf die Leipziger Meſſe kommen. Heißt das der Natur nachgeahmet?
57 Rätzelhafft entdeckt. Dieß geht wieder auf die groſſen Arten der Gedichte.
Ein Helden-Gedicht, und ein Theatraliſch Stuͤck meldet gleich von forne wovon es
handeln wird, aber nur dunckel; damit nicht der Zuhoͤrer Aufmerckſamkeit ein
Ende nehme, ehe alles aus iſt. Die voͤllige Aufloͤſung der gantzen Verwirrung
muß gantz aufs letzte bleiben. Unſre Romanſchreiber pflegen dieſe Regel ziemlich
gut in Acht zu nehmen; wenn ſie ihre Fabeln in der Mitten anfangen, und allmaͤh-
lich das vorhergegangene nachholen.
57 Klüglich im Entſcheiden. Eine kluge Wahl macht einen guten Poeten.
Die erſten Einfaͤlle find nicht immer die beſten. Jn einer Haupt-Fabel koͤnnen viel
Neben-Fabeln vorkommen, aber ſie ſind nicht alle gleich gut. Der Poet muß einen
Unterſcheid zu machen wiſſen.
59 Zu kühn. Wieder dieſe Regel haben nicht nur die Zeſianer und andre
Geſellſchaffter aus mancherley Orden in Deutſchland auf eine laͤcherliche Art ge-
ſuͤndiget: ſondern es treten auch heutiges Tages noch viele in ihre Fußtapfen. Sie
machen taͤglich ein paar Dutzend neue Woͤrter, und es koͤmmt kein Gedichte von
ihnen zum Vorſchein, darinn ſie nicht, ihrer Meynung nach, die Sprache berei-
chert haͤtten.
60 Das ältſte ꝛc. Die Fuͤgung der Woͤrter giebt offt alten Woͤrtern einen
neuen Verſtand: Wenn nun der Scribent ſie ſo verbindet, daß man ohne Muͤhe
ſieht was er haben will, ſo iſts gut. Der Grund-Text kan auch von der Zuſammen-
ziehung zweyer einfachen Woͤrter verſtanden werden. Z. E. Banck und Saͤnger
iſt beydes bekannt: wenn ich aber einen ſchlechten Poeten einen Baͤnckel-Saͤnger
nenne, ſo iſt es neu. Die Lateiner pflegten dergleichen zu thun, aber die Griechen
weit haͤufiger. Wir Deutſchen haben die Freyheit auch, aber man muß das Ohr
zu Rathe ziehen.
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