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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Sendschreiben.
Theile der Hoffmannswaldauischen Gedichte nachlesen,
auch Neukirchs Arbeit dargegen halten, die in einem an-
dern Theile dieser Sammlung befindlich ist, und sehen,
wem es besser gelungen ist. Unter unsern Landesleuten
hat Opitz uns den Weg in poetischen Briefen gebahnet.
Sonderlich haben mir allezeit die an Zinckgräfen, und
Nüßlern, nebst verschiedenen andern gefallen. Flemming
ist nicht minder glücklich darinn gewesen, und Tscherning
nebst Francken haben sich auch mit gutem Fortgange auf
diese Art gelegt. Doch Canitz, Neukirch und Günther
behalten wohl vor allen den Preis. Jhre Briefe sind den
besten Römischen und Frantzösischen offt gleich zu schätzen,
ja zuweilen gar vorzuziehen. Und nach den Exempeln die-
ser grossen Meister will ich die Regeln dieser Art von Ge-
dichten abzufassen bemüht seyn.

Horatz hat in seinen Briefen durchgehends die Alex-
andrinischen Verße gebraucht, niemahls aber fünffüßige
darunter gemischet. Die Ursache mag wohl diese gewesen
seyn, weil man sich in Elegien gar zu sehr binden muß.
Der Verstand muß sich allezeit bey der andern Zeile schlies-
sen, damit der Wohlklang nicht gehindert werde. Ho-
ratius aber liebte die Freyheit in seinen Briefen, wie auch
ihr Character solches erforderte. Er nahm daher lieber
die Alexandrinischen Verße dazu, wo man die Erlaubniß
hat, den Verstand zuweilen in die dritte, vierdte ja fünfte
Zeile hinauszuziehen. Wäre in den heutigen Sprachen
dieses Sylbenmaaß auch eingeführet; so dörften wir dem
Römer nur hierinn nachfolgen: nun aber müssen wir uns
nach unserer Art eine Gattung von Verßen nehmen, da
uns eben der Vortheil zu statten kommt. Das sind nun
die sogenannten heroischen Verße, nehmlich die sechsfüßi-
gen Jambischen mit ungetrennten Reimen. Boileau hat
sich derselben auch bedient, und unsre Poeten haben sie ein-
hellig dazu angewandt. Z. E. Opitz schreibt an den Kay-
ser Ferdinand:

Du Zier und Trost der Zeit, du edles Haupt der Erden,
Dem Himmel, Lufft und See und Land zu Dienste werden,
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E e 2

Von poetiſchen Sendſchreiben.
Theile der Hoffmannswaldauiſchen Gedichte nachleſen,
auch Neukirchs Arbeit dargegen halten, die in einem an-
dern Theile dieſer Sammlung befindlich iſt, und ſehen,
wem es beſſer gelungen iſt. Unter unſern Landesleuten
hat Opitz uns den Weg in poetiſchen Briefen gebahnet.
Sonderlich haben mir allezeit die an Zinckgraͤfen, und
Nuͤßlern, nebſt verſchiedenen andern gefallen. Flemming
iſt nicht minder gluͤcklich darinn geweſen, und Tſcherning
nebſt Francken haben ſich auch mit gutem Fortgange auf
dieſe Art gelegt. Doch Canitz, Neukirch und Guͤnther
behalten wohl vor allen den Preis. Jhre Briefe ſind den
beſten Roͤmiſchen und Frantzoͤſiſchen offt gleich zu ſchaͤtzen,
ja zuweilen gar vorzuziehen. Und nach den Exempeln die-
ſer groſſen Meiſter will ich die Regeln dieſer Art von Ge-
dichten abzufaſſen bemuͤht ſeyn.

Horatz hat in ſeinen Briefen durchgehends die Alex-
andriniſchen Verße gebraucht, niemahls aber fuͤnffuͤßige
darunter gemiſchet. Die Urſache mag wohl dieſe geweſen
ſeyn, weil man ſich in Elegien gar zu ſehr binden muß.
Der Verſtand muß ſich allezeit bey der andern Zeile ſchlieſ-
ſen, damit der Wohlklang nicht gehindert werde. Ho-
ratius aber liebte die Freyheit in ſeinen Briefen, wie auch
ihr Character ſolches erforderte. Er nahm daher lieber
die Alexandriniſchen Verße dazu, wo man die Erlaubniß
hat, den Verſtand zuweilen in die dritte, vierdte ja fuͤnfte
Zeile hinauszuziehen. Waͤre in den heutigen Sprachen
dieſes Sylbenmaaß auch eingefuͤhret; ſo doͤrften wir dem
Roͤmer nur hierinn nachfolgen: nun aber muͤſſen wir uns
nach unſerer Art eine Gattung von Verßen nehmen, da
uns eben der Vortheil zu ſtatten kommt. Das ſind nun
die ſogenannten heroiſchen Verße, nehmlich die ſechsfuͤßi-
gen Jambiſchen mit ungetrennten Reimen. Boileau hat
ſich derſelben auch bedient, und unſre Poeten haben ſie ein-
hellig dazu angewandt. Z. E. Opitz ſchreibt an den Kay-
ſer Ferdinand:

Du Zier und Troſt der Zeit, du edles Haupt der Erden,
Dem Himmel, Lufft und See und Land zu Dienſte werden,
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[435/0463] Von poetiſchen Sendſchreiben. Theile der Hoffmannswaldauiſchen Gedichte nachleſen, auch Neukirchs Arbeit dargegen halten, die in einem an- dern Theile dieſer Sammlung befindlich iſt, und ſehen, wem es beſſer gelungen iſt. Unter unſern Landesleuten hat Opitz uns den Weg in poetiſchen Briefen gebahnet. Sonderlich haben mir allezeit die an Zinckgraͤfen, und Nuͤßlern, nebſt verſchiedenen andern gefallen. Flemming iſt nicht minder gluͤcklich darinn geweſen, und Tſcherning nebſt Francken haben ſich auch mit gutem Fortgange auf dieſe Art gelegt. Doch Canitz, Neukirch und Guͤnther behalten wohl vor allen den Preis. Jhre Briefe ſind den beſten Roͤmiſchen und Frantzoͤſiſchen offt gleich zu ſchaͤtzen, ja zuweilen gar vorzuziehen. Und nach den Exempeln die- ſer groſſen Meiſter will ich die Regeln dieſer Art von Ge- dichten abzufaſſen bemuͤht ſeyn. Horatz hat in ſeinen Briefen durchgehends die Alex- andriniſchen Verße gebraucht, niemahls aber fuͤnffuͤßige darunter gemiſchet. Die Urſache mag wohl dieſe geweſen ſeyn, weil man ſich in Elegien gar zu ſehr binden muß. Der Verſtand muß ſich allezeit bey der andern Zeile ſchlieſ- ſen, damit der Wohlklang nicht gehindert werde. Ho- ratius aber liebte die Freyheit in ſeinen Briefen, wie auch ihr Character ſolches erforderte. Er nahm daher lieber die Alexandriniſchen Verße dazu, wo man die Erlaubniß hat, den Verſtand zuweilen in die dritte, vierdte ja fuͤnfte Zeile hinauszuziehen. Waͤre in den heutigen Sprachen dieſes Sylbenmaaß auch eingefuͤhret; ſo doͤrften wir dem Roͤmer nur hierinn nachfolgen: nun aber muͤſſen wir uns nach unſerer Art eine Gattung von Verßen nehmen, da uns eben der Vortheil zu ſtatten kommt. Das ſind nun die ſogenannten heroiſchen Verße, nehmlich die ſechsfuͤßi- gen Jambiſchen mit ungetrennten Reimen. Boileau hat ſich derſelben auch bedient, und unſre Poeten haben ſie ein- hellig dazu angewandt. Z. E. Opitz ſchreibt an den Kay- ſer Ferdinand: Du Zier und Troſt der Zeit, du edles Haupt der Erden, Dem Himmel, Lufft und See und Land zu Dienſte werden, O E e 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/463>, abgerufen am 22.11.2024.