Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Jch seh, du lachst mich aus, und sprichst: ich sey nicht klug; Der Zorn bestärcke ja des Buches Werth genug; Die Hunde bellten nur, die sich getroffen finden; Dein Gulliver sey werth in Saffian zu binden. Genug, mein Freund, genug! Jch bin ihm selber hold. Man geb ihm einen Rock von lauter Samt und Gold, Er mag den schönsten Platz im Bücher-Schranck erfüllen, Denn er verdient ihn mehr als zwantzig Schock Postillen. Die Wahrheit herrscht darinn; und wenn es Fabeln sind, Was man von Liliput und Brobdingnackern findt, So dienen sie der Welt, die Lehren zu vergülden: Was pflegt ein kluger Artzt nicht Krancken einzubilden? Jch unterschreibe mich, und hab es längst gespürt, Daß unsre Welt den Witz je mehr und mehr verliert, Und von der güldnen Zeit, die man so schön beschrieben, Uns kaum ein Loth Vernunft in allem übrig blieben. Denn heißt der tolle Mensch noch ein vernünftig Thier, So rückt der Titel ihm nur seine Thorheit für; Und zeigt ihm was er seyn, und nicht nur heißen sollte, Wenn er des Schöpfers Bild auf Erden tragen wollte. Man sage mir einmahl, wo liegt das Wunderland, Das jenes Sonnen-Kind durch lange Schiffahrt fand; Das Sevaramber-Volck, in dessen edlen Gräntzen, Witz, Klugheit und Verstand in vollem Lichte gläntzen? Wer Menschen suchen will, der suche sie allda, Jn jener Mittags-Welt, und in Utopia; Nur in Europa nicht, wo Diogen vorzeiten, Jm witzigen Athen, bey so viel tausend Leuten, Sie schon umsonst gesucht, sein Licht umsonst verbrannt. O! käme Diogen in unser Vaterland, Es würd ihm alsofort so Muth als Lust verschwinden, Ein halbes Pfennings-Licht zum Suchen anzuzünden. Jhr zweifelt? wagt es selbst! Steckt hundert Fackeln an, Sucht Menschen in der Welt, die niemand schelten kan; Durchziehet Stadt und Land und forscht an allen Enden, Jn Nord, Ost, Süd und West, in groß und kleinen Ständen; Durch-
Jch ſeh, du lachſt mich aus, und ſprichſt: ich ſey nicht klug; Der Zorn beſtaͤrcke ja des Buches Werth genug; Die Hunde bellten nur, die ſich getroffen finden; Dein Gulliver ſey werth in Saffian zu binden. Genug, mein Freund, genug! Jch bin ihm ſelber hold. Man geb ihm einen Rock von lauter Samt und Gold, Er mag den ſchoͤnſten Platz im Buͤcher-Schranck erfuͤllen, Denn er verdient ihn mehr als zwantzig Schock Poſtillen. Die Wahrheit herrſcht darinn; und wenn es Fabeln ſind, Was man von Liliput und Brobdingnackern findt, So dienen ſie der Welt, die Lehren zu verguͤlden: Was pflegt ein kluger Artzt nicht Krancken einzubilden? Jch unterſchreibe mich, und hab es laͤngſt geſpuͤrt, Daß unſre Welt den Witz je mehr und mehr verliert, Und von der guͤldnen Zeit, die man ſo ſchoͤn beſchrieben, Uns kaum ein Loth Vernunft in allem uͤbrig blieben. Denn heißt der tolle Menſch noch ein vernuͤnftig Thier, So ruͤckt der Titel ihm nur ſeine Thorheit fuͤr; Und zeigt ihm was er ſeyn, und nicht nur heißen ſollte, Wenn er des Schoͤpfers Bild auf Erden tragen wollte. Man ſage mir einmahl, wo liegt das Wunderland, Das jenes Sonnen-Kind durch lange Schiffahrt fand; Das Sevaramber-Volck, in deſſen edlen Graͤntzen, Witz, Klugheit und Verſtand in vollem Lichte glaͤntzen? Wer Menſchen ſuchen will, der ſuche ſie allda, Jn jener Mittags-Welt, und in Utopia; Nur in Europa nicht, wo Diogen vorzeiten, Jm witzigen Athen, bey ſo viel tauſend Leuten, Sie ſchon umſonſt geſucht, ſein Licht umſonſt verbrannt. O! kaͤme Diogen in unſer Vaterland, Es wuͤrd ihm alſofort ſo Muth als Luſt verſchwinden, Ein halbes Pfennings-Licht zum Suchen anzuzuͤnden. Jhr zweifelt? wagt es ſelbſt! Steckt hundert Fackeln an, Sucht Menſchen in der Welt, die niemand ſchelten kan; Durchziehet Stadt und Land und forſcht an allen Enden, Jn Nord, Oſt, Suͤd und Weſt, in groß und kleinen Staͤnden; Durch-
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Des II Theils VI Capitel
Du haſt zu viel gewagt, und etwa nicht bedacht,
Daß Schmeicheley beliebt, und Wahrheit Feinde macht.
Verwirf dein ſchlaues Buch; Kauf jedes Stuͤck zuſammen,
Reiß Blatt vor Blatt entzwey, und wirf es in die Flammen.
Zerſtampf es gar zu Koth; und geht dir keins recht an:
So wiederleg es nur, wie Auguſtin gethan,
Und laß dereinſt die Welt zu deinem Lobe leſen,
Daß alles, was du ſchriebſt, nicht flugs dein Ernſt geweſen.
Jch ſeh, du lachſt mich aus, und ſprichſt: ich ſey nicht klug;
Der Zorn beſtaͤrcke ja des Buches Werth genug;
Die Hunde bellten nur, die ſich getroffen finden;
Dein Gulliver ſey werth in Saffian zu binden.
Genug, mein Freund, genug! Jch bin ihm ſelber hold.
Man geb ihm einen Rock von lauter Samt und Gold,
Er mag den ſchoͤnſten Platz im Buͤcher-Schranck erfuͤllen,
Denn er verdient ihn mehr als zwantzig Schock Poſtillen.
Die Wahrheit herrſcht darinn; und wenn es Fabeln ſind,
Was man von Liliput und Brobdingnackern findt,
So dienen ſie der Welt, die Lehren zu verguͤlden:
Was pflegt ein kluger Artzt nicht Krancken einzubilden?
Jch unterſchreibe mich, und hab es laͤngſt geſpuͤrt,
Daß unſre Welt den Witz je mehr und mehr verliert,
Und von der guͤldnen Zeit, die man ſo ſchoͤn beſchrieben,
Uns kaum ein Loth Vernunft in allem uͤbrig blieben.
Denn heißt der tolle Menſch noch ein vernuͤnftig Thier,
So ruͤckt der Titel ihm nur ſeine Thorheit fuͤr;
Und zeigt ihm was er ſeyn, und nicht nur heißen ſollte,
Wenn er des Schoͤpfers Bild auf Erden tragen wollte.
Man ſage mir einmahl, wo liegt das Wunderland,
Das jenes Sonnen-Kind durch lange Schiffahrt fand;
Das Sevaramber-Volck, in deſſen edlen Graͤntzen,
Witz, Klugheit und Verſtand in vollem Lichte glaͤntzen?
Wer Menſchen ſuchen will, der ſuche ſie allda,
Jn jener Mittags-Welt, und in Utopia;
Nur in Europa nicht, wo Diogen vorzeiten,
Jm witzigen Athen, bey ſo viel tauſend Leuten,
Sie ſchon umſonſt geſucht, ſein Licht umſonſt verbrannt.
O! kaͤme Diogen in unſer Vaterland,
Es wuͤrd ihm alſofort ſo Muth als Luſt verſchwinden,
Ein halbes Pfennings-Licht zum Suchen anzuzuͤnden.
Jhr zweifelt? wagt es ſelbſt! Steckt hundert Fackeln an,
Sucht Menſchen in der Welt, die niemand ſchelten kan;
Durchziehet Stadt und Land und forſcht an allen Enden,
Jn Nord, Oſt, Suͤd und Weſt, in groß und kleinen Staͤnden;
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