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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Sinn- und Schertzgedichten.
Scharfsinnigkeit kommt vielmahls auch der Witz, der zwi-
schen einem solchen Umstande und etwas anderm eine Aehn-
lichkeit findet, selbiges entweder zu erheben oder zu verkleinern.
Dieser Gedancke aber muß kurtz gefasset werden, damit er in
dem Verstande des Lesers eine plötzliche und unvermuthete
Wirckung thue. Die Weitläuftigkeit des Ausdruckes
würde nur machen, daß man durch die Umschweife schon
von weitem zu rathen anfienge, was kommen würde: wo-
durch aber das Vergnügen über denselben um ein vieles ge-
mindert werden, ja gar verschwinden würde.

Die besten Exempel scharfsinniger Sinngedichte wer-
den bestätigen, was ich davon gesagt. Virgil hat an den
Pallast des Kaysers August folgende Zeilen angeschrieben;
wodurch er zuerst bekannt worden:

Nocte pluit tota, redeunt spectacula mane;
Diuisum imperium cum Ioue Caesar habet.

Es stürmt die gantze Nacht, der Morgen bringt uns Lust,
So herrscht zwar Jupiter, doch neben ihm August.

Woher entsteht hier das sinnreiche? Erstlich daher, daß
Virgil an einem Tage etwas wahrgenommen, darauf andre
nicht acht gegeben: daß nehmlich auf eine regnichte Nacht
mancherley Lustbarkeiten in Rom angestellet worden. Zwey-
tens darinn, daß er den August mit dem Jupiter vergleichet,
und das Regiment der Welt unter sie eintheilet. Die be-
rühmte Grabschrifft des Martialis auf die Dido wird eben
das zeigen:

Infelix Dido nulli bene nupta marito.
Hoc pereunte fugit, hoc fugiente perit.

Die Männer wircken dir, o Dido, lauter Noth;
Des einen Tod die Flucht; des andern Flucht der Tod.

Hier bemerckt der Poet abermahl, daß Dido ohn ihre Ehe-
männer würde glücklich gewesen seyn, woran nicht gleich ein
jeder dencket. Hernach vergleicht er die beyden Trübsalen
mit einander, und findet selbst in dem Gegensatze der Flucht
und des Todes eine gewisse Aehnlichkeit, die noch keinem ein-
gekommen war.

Ausser
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Von Sinn- und Schertzgedichten.
Scharfſinnigkeit kommt vielmahls auch der Witz, der zwi-
ſchen einem ſolchen Umſtande und etwas anderm eine Aehn-
lichkeit findet, ſelbiges entweder zu erheben oder zu verkleinern.
Dieſer Gedancke aber muß kurtz gefaſſet werden, damit er in
dem Verſtande des Leſers eine ploͤtzliche und unvermuthete
Wirckung thue. Die Weitlaͤuftigkeit des Ausdruckes
wuͤrde nur machen, daß man durch die Umſchweife ſchon
von weitem zu rathen anfienge, was kommen wuͤrde: wo-
durch aber das Vergnuͤgen uͤber denſelben um ein vieles ge-
mindert werden, ja gar verſchwinden wuͤrde.

Die beſten Exempel ſcharfſinniger Sinngedichte wer-
den beſtaͤtigen, was ich davon geſagt. Virgil hat an den
Pallaſt des Kayſers Auguſt folgende Zeilen angeſchrieben;
wodurch er zuerſt bekannt worden:

Nocte pluit tota, redeunt ſpectacula mane;
Diuiſum imperium cum Ioue Caeſar habet.

Es ſtuͤrmt die gantze Nacht, der Morgen bringt uns Luſt,
So herrſcht zwar Jupiter, doch neben ihm Auguſt.

Woher entſteht hier das ſinnreiche? Erſtlich daher, daß
Virgil an einem Tage etwas wahrgenommen, darauf andre
nicht acht gegeben: daß nehmlich auf eine regnichte Nacht
mancherley Luſtbarkeiten in Rom angeſtellet worden. Zwey-
tens darinn, daß er den Auguſt mit dem Jupiter vergleichet,
und das Regiment der Welt unter ſie eintheilet. Die be-
ruͤhmte Grabſchrifft des Martialis auf die Dido wird eben
das zeigen:

Infelix Dido nulli bene nupta marito.
Hoc pereunte fugit, hoc fugiente perit.

Die Maͤnner wircken dir, o Dido, lauter Noth;
Des einen Tod die Flucht; des andern Flucht der Tod.

Hier bemerckt der Poet abermahl, daß Dido ohn ihre Ehe-
maͤnner wuͤrde gluͤcklich geweſen ſeyn, woran nicht gleich ein
jeder dencket. Hernach vergleicht er die beyden Truͤbſalen
mit einander, und findet ſelbſt in dem Gegenſatze der Flucht
und des Todes eine gewiſſe Aehnlichkeit, die noch keinem ein-
gekommen war.

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[483/0511] Von Sinn- und Schertzgedichten. Scharfſinnigkeit kommt vielmahls auch der Witz, der zwi- ſchen einem ſolchen Umſtande und etwas anderm eine Aehn- lichkeit findet, ſelbiges entweder zu erheben oder zu verkleinern. Dieſer Gedancke aber muß kurtz gefaſſet werden, damit er in dem Verſtande des Leſers eine ploͤtzliche und unvermuthete Wirckung thue. Die Weitlaͤuftigkeit des Ausdruckes wuͤrde nur machen, daß man durch die Umſchweife ſchon von weitem zu rathen anfienge, was kommen wuͤrde: wo- durch aber das Vergnuͤgen uͤber denſelben um ein vieles ge- mindert werden, ja gar verſchwinden wuͤrde. Die beſten Exempel ſcharfſinniger Sinngedichte wer- den beſtaͤtigen, was ich davon geſagt. Virgil hat an den Pallaſt des Kayſers Auguſt folgende Zeilen angeſchrieben; wodurch er zuerſt bekannt worden: Nocte pluit tota, redeunt ſpectacula mane; Diuiſum imperium cum Ioue Caeſar habet. Es ſtuͤrmt die gantze Nacht, der Morgen bringt uns Luſt, So herrſcht zwar Jupiter, doch neben ihm Auguſt. Woher entſteht hier das ſinnreiche? Erſtlich daher, daß Virgil an einem Tage etwas wahrgenommen, darauf andre nicht acht gegeben: daß nehmlich auf eine regnichte Nacht mancherley Luſtbarkeiten in Rom angeſtellet worden. Zwey- tens darinn, daß er den Auguſt mit dem Jupiter vergleichet, und das Regiment der Welt unter ſie eintheilet. Die be- ruͤhmte Grabſchrifft des Martialis auf die Dido wird eben das zeigen: Infelix Dido nulli bene nupta marito. Hoc pereunte fugit, hoc fugiente perit. Die Maͤnner wircken dir, o Dido, lauter Noth; Des einen Tod die Flucht; des andern Flucht der Tod. Hier bemerckt der Poet abermahl, daß Dido ohn ihre Ehe- maͤnner wuͤrde gluͤcklich geweſen ſeyn, woran nicht gleich ein jeder dencket. Hernach vergleicht er die beyden Truͤbſalen mit einander, und findet ſelbſt in dem Gegenſatze der Flucht und des Todes eine gewiſſe Aehnlichkeit, die noch keinem ein- gekommen war. Auſſer H h 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/511>, abgerufen am 22.11.2024.