Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Jst Deutschland eine Menge verwegener Comödienmacher gehabt, an welchen nichts mehr zu loben ist, als daß sie das wenigste haben drucken lassen: so, daß es uns gleich- wohl von Ausländern nicht zur Schande kan vorgerücket werden. 233 Des Greisen Rolle. Das heist nicht: Keinem jungen Comödianten die Partie eines alten Mannes zu spielen geben; sondern einem Jünglinge, der im Schauspiele selbst einen jungen Menschen vorstellen soll, nicht die Gemüths-Art eines Alten andichten. Denn da jenes sehr wohl angeht, so läuft dieses wieder alle Wahrscheinlichkeit. Das wäre ein anders, wenn man gerade das Wiederspiel von unsren Sitten vorzustellen willens wäre, wie der Hr. Geh. Secr. König in seiner verkehrten Welt den jungen Stutzer so bildet, daß er sehr sparsam, redlich, höflich und demüthig ist. Er wollte den Character junger Leute so machen, wie sie seyn sollten, nicht wie sie wircklich sind. 237 Erzehlt man bloß. Man kan nicht alles sichtbarlich auf der Schaubühne
vorstellen, was in einer Tragödie oder Comödie vorkommt. Bisweilen ist die Zeit, bisweilen auch der Ort Schuld daran: bisweilen aber auch die Natur der Sache selbst. Die Franzosen lassen auf ihren Bühnen kein Blut vergiessen, weil sie
Jſt Deutſchland eine Menge verwegener Comoͤdienmacher gehabt, an welchen nichts mehr zu loben iſt, als daß ſie das wenigſte haben drucken laſſen: ſo, daß es uns gleich- wohl von Auslaͤndern nicht zur Schande kan vorgeruͤcket werden. 233 Des Greiſen Rolle. Das heiſt nicht: Keinem jungen Comoͤdianten die Partie eines alten Mannes zu ſpielen geben; ſondern einem Juͤnglinge, der im Schauſpiele ſelbſt einen jungen Menſchen vorſtellen ſoll, nicht die Gemuͤths-Art eines Alten andichten. Denn da jenes ſehr wohl angeht, ſo laͤuft dieſes wieder alle Wahrſcheinlichkeit. Das waͤre ein anders, wenn man gerade das Wiederſpiel von unſren Sitten vorzuſtellen willens waͤre, wie der Hr. Geh. Secr. Koͤnig in ſeiner verkehrten Welt den jungen Stutzer ſo bildet, daß er ſehr ſparſam, redlich, hoͤflich und demuͤthig iſt. Er wollte den Character junger Leute ſo machen, wie ſie ſeyn ſollten, nicht wie ſie wircklich ſind. 237 Erzehlt man bloß. Man kan nicht alles ſichtbarlich auf der Schaubuͤhne
vorſtellen, was in einer Tragoͤdie oder Comoͤdie vorkommt. Bisweilen iſt die Zeit, bisweilen auch der Ort Schuld daran: bisweilen aber auch die Natur der Sache ſelbſt. Die Franzoſen laſſen auf ihren Buͤhnen kein Blut vergieſſen, weil ſie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="7"> <l> <pb facs="#f0052" n="24"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Ein Kind, ſo reden lernt, und deſſen feſter Schritt,</l><lb/> <l>Den Boden allbereit ohn alle Furcht betritt,</l><lb/> <l>Vertreibt die Zeit im Spiel und ſcherzt mit ſeines gleichen,<lb/><note place="left">210</note>Jſt bald zum Zorn gereizt, auch leichtlich zu erweichen,</l><lb/> <l>Und ſtets voll Unbeſtand. Wird nun der Knabe groß,</l><lb/> <l>Der Eltern ſtrenger Zucht, der Lehrer Aufſicht loß;</l><lb/> <l>So lacht ihm ſtets das Hertz bey Hunden, Wild und Pferden,</l><lb/> <l>Kan leicht aus Unverſtand der Laſter Sclave werden,<lb/><note place="left">215</note>Haßt jeden der ihn ſtraft, bedenckt nicht was ihm nuͤtzt,</l><lb/> <l>Verzehrt mehr als er hat, iſt ſtolz, vor Luſt erhitzt,</l><lb/> <l>Und kan doch was er liebt, in kurtzem wieder haſſen.</l><lb/> <l>Gantz anders iſt ein Mann, der alles das verlaſſen.</l><lb/> <l>Geſetzt und ſtandhafft ſeyn, das iſt ſein Eigenthum,<lb/><note place="left">220</note>Er ſtrebt nach Geld u. Gut, nach Freundſchafft, Gunſt u. Ruhm,</l><lb/> <l>Und nimmt ſich wohl in acht, damit er nichts begehe,</l><lb/> <l>Daraus ihm Schimpf und Spott und ſpaͤte Reu entſtehe.</l><lb/> <l>Ein abgelebter Greis wird mit den Jahren matt,</l><lb/> <l>Verlangt was ihm gebricht, genieſt nicht was er hat,<lb/><note place="left">225</note>Jſt furchtſam was zu thun, und gar zu karg im geben,</l><lb/> <l>Schiebt alles laͤnger auf, und hofft ein langes Leben,</l><lb/> <l>Jſt traͤge, wuͤnſcht zuviel, hat ſtets ein ſchlechtes Jahr,</l><lb/> <l>Und lobt die alte Zeit, da er ein Juͤngling war,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jſt</fw><lb/><note xml:id="f16" prev="#f15" place="foot" n="206">Deutſchland eine Menge verwegener Comoͤdienmacher gehabt, an welchen nichts<lb/> mehr zu loben iſt, als daß ſie das wenigſte haben drucken laſſen: ſo, daß es uns gleich-<lb/> wohl von Auslaͤndern nicht zur Schande kan vorgeruͤcket werden.</note><lb/><note place="foot" n="233"><hi rendition="#fr">Des Greiſen Rolle.</hi> Das heiſt nicht: Keinem jungen Comoͤdianten die<lb/> Partie eines alten Mannes zu ſpielen geben; ſondern einem Juͤnglinge, der im<lb/> Schauſpiele ſelbſt einen jungen Menſchen vorſtellen ſoll, nicht die Gemuͤths-Art<lb/> eines Alten andichten. Denn da jenes ſehr wohl angeht, ſo laͤuft dieſes wieder alle<lb/> Wahrſcheinlichkeit. Das waͤre ein anders, wenn man gerade das Wiederſpiel von<lb/> unſren Sitten vorzuſtellen willens waͤre, wie der Hr. Geh. Secr. Koͤnig in ſeiner<lb/> verkehrten Welt den jungen Stutzer ſo bildet, daß er ſehr ſparſam, redlich, hoͤflich<lb/> und demuͤthig iſt. Er wollte den Character junger Leute ſo machen, wie ſie ſeyn<lb/> ſollten, nicht wie ſie wircklich ſind.</note><lb/><note xml:id="f17" next="#f18" place="foot" n="237"><hi rendition="#fr">Erzehlt man bloß.</hi> Man kan nicht alles ſichtbarlich auf der Schaubuͤhne<lb/> vorſtellen, was in einer Tragoͤdie oder Comoͤdie vorkommt. Bisweilen iſt die<lb/> Zeit, bisweilen auch der Ort Schuld daran: bisweilen aber auch die Natur der<lb/> Sache ſelbſt. Die Franzoſen laſſen auf ihren Buͤhnen kein Blut vergieſſen, weil<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſie</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0052]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Ein Kind, ſo reden lernt, und deſſen feſter Schritt,
Den Boden allbereit ohn alle Furcht betritt,
Vertreibt die Zeit im Spiel und ſcherzt mit ſeines gleichen,
Jſt bald zum Zorn gereizt, auch leichtlich zu erweichen,
Und ſtets voll Unbeſtand. Wird nun der Knabe groß,
Der Eltern ſtrenger Zucht, der Lehrer Aufſicht loß;
So lacht ihm ſtets das Hertz bey Hunden, Wild und Pferden,
Kan leicht aus Unverſtand der Laſter Sclave werden,
Haßt jeden der ihn ſtraft, bedenckt nicht was ihm nuͤtzt,
Verzehrt mehr als er hat, iſt ſtolz, vor Luſt erhitzt,
Und kan doch was er liebt, in kurtzem wieder haſſen.
Gantz anders iſt ein Mann, der alles das verlaſſen.
Geſetzt und ſtandhafft ſeyn, das iſt ſein Eigenthum,
Er ſtrebt nach Geld u. Gut, nach Freundſchafft, Gunſt u. Ruhm,
Und nimmt ſich wohl in acht, damit er nichts begehe,
Daraus ihm Schimpf und Spott und ſpaͤte Reu entſtehe.
Ein abgelebter Greis wird mit den Jahren matt,
Verlangt was ihm gebricht, genieſt nicht was er hat,
Jſt furchtſam was zu thun, und gar zu karg im geben,
Schiebt alles laͤnger auf, und hofft ein langes Leben,
Jſt traͤge, wuͤnſcht zuviel, hat ſtets ein ſchlechtes Jahr,
Und lobt die alte Zeit, da er ein Juͤngling war,
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206 Deutſchland eine Menge verwegener Comoͤdienmacher gehabt, an welchen nichts
mehr zu loben iſt, als daß ſie das wenigſte haben drucken laſſen: ſo, daß es uns gleich-
wohl von Auslaͤndern nicht zur Schande kan vorgeruͤcket werden.
233 Des Greiſen Rolle. Das heiſt nicht: Keinem jungen Comoͤdianten die
Partie eines alten Mannes zu ſpielen geben; ſondern einem Juͤnglinge, der im
Schauſpiele ſelbſt einen jungen Menſchen vorſtellen ſoll, nicht die Gemuͤths-Art
eines Alten andichten. Denn da jenes ſehr wohl angeht, ſo laͤuft dieſes wieder alle
Wahrſcheinlichkeit. Das waͤre ein anders, wenn man gerade das Wiederſpiel von
unſren Sitten vorzuſtellen willens waͤre, wie der Hr. Geh. Secr. Koͤnig in ſeiner
verkehrten Welt den jungen Stutzer ſo bildet, daß er ſehr ſparſam, redlich, hoͤflich
und demuͤthig iſt. Er wollte den Character junger Leute ſo machen, wie ſie ſeyn
ſollten, nicht wie ſie wircklich ſind.
237 Erzehlt man bloß. Man kan nicht alles ſichtbarlich auf der Schaubuͤhne
vorſtellen, was in einer Tragoͤdie oder Comoͤdie vorkommt. Bisweilen iſt die
Zeit, bisweilen auch der Ort Schuld daran: bisweilen aber auch die Natur der
Sache ſelbſt. Die Franzoſen laſſen auf ihren Buͤhnen kein Blut vergieſſen, weil
ſie
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