Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite


Das achte Capitel.
Von dogmatischen, heroischen und
andern grössern Poesien.

WJr finden daß Empedocles, ein Sicilianischer Philo-
soph, eine Natur-Lehre, und Aratus, ein Stern-
Kündiger, eine Astronomie in Versen geschrieben.
Lucretius hat unter den Römern die gantze Epicurische Phy-
sic in seinen Büchern von der Natur aller Dinge, und Vir-
gilius den gantzen Feld-Bau in vier Büchern beschrieben.
Horatius und Boileau haben uns von der Poesie selbst in
Versen einen Unterricht gegeben; und der Abt Genest hat die
gantze neuere Welt-Weisheit in einem eigenen poetischen
Wercke abhandeln wollen. Opitz hat uns den Berg Vesu-
vium und das Schlesische Vielgut, imgleichen von Ruhe
des Gemüths, und endlich vier Bücher Trost-Gedichte in
Widerwärtigkeit des Krieges in poetischer Schreib-Art ab-
gefasset. Alle diese und andere dergleichen Gedichte begreife
ich unter dem Nahmen dogmatischer Poesien, oder Lehr-
Schrifften.

Daß es angehe dergleichen philosophische, natürliche
und sittliche Materien in Versen abzuhandeln, lehrt der Au-
genschein selbst: und daß es nicht uneben sey, zeigen die Exem-
pel der grössesten Männer. Das fragt sich nur, ob man die-
se und dergleichen Schrifften Gedichte nennen könne? Nach
der oben fest gestellten Beschreibung der Poesie überhaupt,
kan man ihnen diesen Nahmen nicht einräumen. Alle diese
grosse und weitläuftige Wercke sind zwar in Versen geschrie-
ben; in der That aber keine Gedichte: weil sie nichts gedich-
tetes, das ist keine Fabeln sind. Aristoteles hat daher dem
Empedocles in dem ersten Capitel seiner Poetic den Titel ei-
nes Poeten abgesprochen, und ihm nur den Nahmen eines
Natur-Kündigers zugestanden: ob er wohl wuste, daß die
Unverständigen ihn, seiner Alexandrinischen Verse halber, mit

dem
K k


Das achte Capitel.
Von dogmatiſchen, heroiſchen und
andern groͤſſern Poeſien.

WJr finden daß Empedocles, ein Sicilianiſcher Philo-
ſoph, eine Natur-Lehre, und Aratus, ein Stern-
Kuͤndiger, eine Aſtronomie in Verſen geſchrieben.
Lucretius hat unter den Roͤmern die gantze Epicuriſche Phy-
ſic in ſeinen Buͤchern von der Natur aller Dinge, und Vir-
gilius den gantzen Feld-Bau in vier Buͤchern beſchrieben.
Horatius und Boileau haben uns von der Poeſie ſelbſt in
Verſen einen Unterricht gegeben; und der Abt Geneſt hat die
gantze neuere Welt-Weisheit in einem eigenen poetiſchen
Wercke abhandeln wollen. Opitz hat uns den Berg Veſu-
vium und das Schleſiſche Vielgut, imgleichen von Ruhe
des Gemuͤths, und endlich vier Buͤcher Troſt-Gedichte in
Widerwaͤrtigkeit des Krieges in poetiſcher Schreib-Art ab-
gefaſſet. Alle dieſe und andere dergleichen Gedichte begreife
ich unter dem Nahmen dogmatiſcher Poeſien, oder Lehr-
Schrifften.

Daß es angehe dergleichen philoſophiſche, natuͤrliche
und ſittliche Materien in Verſen abzuhandeln, lehrt der Au-
genſchein ſelbſt: und daß es nicht uneben ſey, zeigen die Exem-
pel der groͤſſeſten Maͤnner. Das fragt ſich nur, ob man die-
ſe und dergleichen Schrifften Gedichte nennen koͤnne? Nach
der oben feſt geſtellten Beſchreibung der Poeſie uͤberhaupt,
kan man ihnen dieſen Nahmen nicht einraͤumen. Alle dieſe
groſſe und weitlaͤuftige Wercke ſind zwar in Verſen geſchrie-
ben; in der That aber keine Gedichte: weil ſie nichts gedich-
tetes, das iſt keine Fabeln ſind. Ariſtoteles hat daher dem
Empedocles in dem erſten Capitel ſeiner Poetic den Titel ei-
nes Poeten abgeſprochen, und ihm nur den Nahmen eines
Natur-Kuͤndigers zugeſtanden: ob er wohl wuſte, daß die
Unverſtaͤndigen ihn, ſeiner Alexandriniſchen Verſe halber, mit

dem
K k
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0541" n="513"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Das achte Capitel.<lb/>
Von dogmati&#x017F;chen, heroi&#x017F;chen und<lb/>
andern gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern Poe&#x017F;ien.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>Jr finden daß Empedocles, ein Siciliani&#x017F;cher Philo-<lb/>
&#x017F;oph, eine Natur-Lehre, und Aratus, ein Stern-<lb/>
Ku&#x0364;ndiger, eine A&#x017F;tronomie in Ver&#x017F;en ge&#x017F;chrieben.<lb/>
Lucretius hat unter den Ro&#x0364;mern die gantze Epicuri&#x017F;che Phy-<lb/>
&#x017F;ic in &#x017F;einen Bu&#x0364;chern von der Natur aller Dinge, und Vir-<lb/>
gilius den gantzen Feld-Bau in vier Bu&#x0364;chern be&#x017F;chrieben.<lb/>
Horatius und Boileau haben uns von der Poe&#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t in<lb/>
Ver&#x017F;en einen Unterricht gegeben; und der Abt Gene&#x017F;t hat die<lb/>
gantze neuere Welt-Weisheit in einem eigenen poeti&#x017F;chen<lb/>
Wercke abhandeln wollen. Opitz hat uns den Berg Ve&#x017F;u-<lb/>
vium und das Schle&#x017F;i&#x017F;che Vielgut, imgleichen von Ruhe<lb/>
des Gemu&#x0364;ths, und endlich vier Bu&#x0364;cher Tro&#x017F;t-Gedichte in<lb/>
Widerwa&#x0364;rtigkeit des Krieges in poeti&#x017F;cher Schreib-Art ab-<lb/>
gefa&#x017F;&#x017F;et. Alle die&#x017F;e und andere dergleichen Gedichte begreife<lb/>
ich unter dem Nahmen dogmati&#x017F;cher Poe&#x017F;ien, oder Lehr-<lb/>
Schrifften.</p><lb/>
          <p>Daß es angehe dergleichen philo&#x017F;ophi&#x017F;che, natu&#x0364;rliche<lb/>
und &#x017F;ittliche Materien in Ver&#x017F;en abzuhandeln, lehrt der Au-<lb/>
gen&#x017F;chein &#x017F;elb&#x017F;t: und daß es nicht uneben &#x017F;ey, zeigen die Exem-<lb/>
pel der gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Ma&#x0364;nner. Das fragt &#x017F;ich nur, ob man die-<lb/>
&#x017F;e und dergleichen Schrifften Gedichte nennen ko&#x0364;nne? Nach<lb/>
der oben fe&#x017F;t ge&#x017F;tellten Be&#x017F;chreibung der Poe&#x017F;ie u&#x0364;berhaupt,<lb/>
kan man ihnen die&#x017F;en Nahmen nicht einra&#x0364;umen. Alle die&#x017F;e<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;e und weitla&#x0364;uftige Wercke &#x017F;ind zwar in Ver&#x017F;en ge&#x017F;chrie-<lb/>
ben; in der That aber keine Gedichte: weil &#x017F;ie nichts gedich-<lb/>
tetes, das i&#x017F;t keine Fabeln &#x017F;ind. Ari&#x017F;toteles hat daher dem<lb/>
Empedocles in dem er&#x017F;ten Capitel &#x017F;einer Poetic den Titel ei-<lb/>
nes Poeten abge&#x017F;prochen, und ihm nur den Nahmen eines<lb/>
Natur-Ku&#x0364;ndigers zuge&#x017F;tanden: ob er wohl wu&#x017F;te, daß die<lb/>
Unver&#x017F;ta&#x0364;ndigen ihn, &#x017F;einer Alexandrini&#x017F;chen Ver&#x017F;e halber, mit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K k</fw><fw place="bottom" type="catch">dem</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[513/0541] Das achte Capitel. Von dogmatiſchen, heroiſchen und andern groͤſſern Poeſien. WJr finden daß Empedocles, ein Sicilianiſcher Philo- ſoph, eine Natur-Lehre, und Aratus, ein Stern- Kuͤndiger, eine Aſtronomie in Verſen geſchrieben. Lucretius hat unter den Roͤmern die gantze Epicuriſche Phy- ſic in ſeinen Buͤchern von der Natur aller Dinge, und Vir- gilius den gantzen Feld-Bau in vier Buͤchern beſchrieben. Horatius und Boileau haben uns von der Poeſie ſelbſt in Verſen einen Unterricht gegeben; und der Abt Geneſt hat die gantze neuere Welt-Weisheit in einem eigenen poetiſchen Wercke abhandeln wollen. Opitz hat uns den Berg Veſu- vium und das Schleſiſche Vielgut, imgleichen von Ruhe des Gemuͤths, und endlich vier Buͤcher Troſt-Gedichte in Widerwaͤrtigkeit des Krieges in poetiſcher Schreib-Art ab- gefaſſet. Alle dieſe und andere dergleichen Gedichte begreife ich unter dem Nahmen dogmatiſcher Poeſien, oder Lehr- Schrifften. Daß es angehe dergleichen philoſophiſche, natuͤrliche und ſittliche Materien in Verſen abzuhandeln, lehrt der Au- genſchein ſelbſt: und daß es nicht uneben ſey, zeigen die Exem- pel der groͤſſeſten Maͤnner. Das fragt ſich nur, ob man die- ſe und dergleichen Schrifften Gedichte nennen koͤnne? Nach der oben feſt geſtellten Beſchreibung der Poeſie uͤberhaupt, kan man ihnen dieſen Nahmen nicht einraͤumen. Alle dieſe groſſe und weitlaͤuftige Wercke ſind zwar in Verſen geſchrie- ben; in der That aber keine Gedichte: weil ſie nichts gedich- tetes, das iſt keine Fabeln ſind. Ariſtoteles hat daher dem Empedocles in dem erſten Capitel ſeiner Poetic den Titel ei- nes Poeten abgeſprochen, und ihm nur den Nahmen eines Natur-Kuͤndigers zugeſtanden: ob er wohl wuſte, daß die Unverſtaͤndigen ihn, ſeiner Alexandriniſchen Verſe halber, mit dem K k

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/541
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/541>, abgerufen am 22.11.2024.