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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dogmatischen Poesien.
und die vier Bücher der Trost-Gedichte werth, daß sie der
Jugend beyzeiten in die Hände gegeben, erkläret, und von
derselben von Wort zu Wort auswendig gelernet würden.
Dieses würde derselben mehr edle Maximen und Sitten-
Lehren geben, als die lateinischen Sprüch elchen, so sie mehren-
theils ohne Verstand herbeten lernt

und länger nicht bewahrt,
Als bis der kluge Sohn nach Papageyen Art,
Sie zu der Eltern Trost dem Lehrer nachgesprochen.

Die alten Griechen hieltens mit ihrem Homer so; und ich weiß
nicht warum wir gegen den Vater unsrer Poeten noch so un-
danckbar sind, da doch seine oberwehnte Gedichte mehr gül-
dene Lehren in sich fassen als die gantze Jlias nnd Odyssee.

Ob man in dieser Gattung von Gedichten die Musen
oder sonst eine Gottheit um ihren Beystand anruffen könne,
ist im Vten Cap. des Isten Theils bereits gewiesen worden.
Von Lucretio ist bekannt, daß er die Venus angeruffen, weil
sie der Erzeugung aller Dinge vorsteht. Virgil in seinen
Georgicis rufft ein gantzes Dutzend Götter an, die beym
Feld-Bau was zu thun haben. Opitz rufft in seinem Ve-
suvius die Natur an, weil er von natürlichen Wundern
schreiben will:

Natur, von deren Krafft Lufft, Welt und Himmel sind,
Des Höchsten Meister-Recht, und erstgebohrnes Kind,
Du Schwester aller Zeit, du Mutter aller Dinge,
O Göttin, gönne mir, daß mein Gemüthe dringe
Jn deiner Wercke Reich, und etwas sagen mag,
Davon kein deutscher Mund noch bis auf diesen Tag
Poetisch hat geredt.

Hätte er es nun dabey bewenden lassen, so wäre es gut gewe-
sen: Aber er fährt fort, und rufft auch den Apollo nebst allen
Musen herbey, die doch bey dieser Materie vom Vesuvius
nichts zu sagen haben:

Jch will mit Wahrheit schreiben
Warum Vesuvius kan Steine von sich treiben,
Woher sein Brennen rührt, und was es etwa sey
Davon die Glut sich nährt. Apollo komm herbey
Mit
K k 3

Von dogmatiſchen Poeſien.
und die vier Buͤcher der Troſt-Gedichte werth, daß ſie der
Jugend beyzeiten in die Haͤnde gegeben, erklaͤret, und von
derſelben von Wort zu Wort auswendig gelernet wuͤrden.
Dieſes wuͤrde derſelben mehr edle Maximen und Sitten-
Lehren geben, als die lateiniſchen Spruͤch elchen, ſo ſie mehren-
theils ohne Verſtand herbeten lernt

und laͤnger nicht bewahrt,
Als bis der kluge Sohn nach Papageyen Art,
Sie zu der Eltern Troſt dem Lehrer nachgeſprochen.

Die alten Griechen hieltens mit ihrem Homer ſo; und ich weiß
nicht warum wir gegen den Vater unſrer Poeten noch ſo un-
danckbar ſind, da doch ſeine oberwehnte Gedichte mehr guͤl-
dene Lehren in ſich faſſen als die gantze Jlias nnd Odyſſee.

Ob man in dieſer Gattung von Gedichten die Muſen
oder ſonſt eine Gottheit um ihren Beyſtand anruffen koͤnne,
iſt im Vten Cap. des Iſten Theils bereits gewieſen worden.
Von Lucretio iſt bekannt, daß er die Venus angeruffen, weil
ſie der Erzeugung aller Dinge vorſteht. Virgil in ſeinen
Georgicis rufft ein gantzes Dutzend Goͤtter an, die beym
Feld-Bau was zu thun haben. Opitz rufft in ſeinem Ve-
ſuvius die Natur an, weil er von natuͤrlichen Wundern
ſchreiben will:

Natur, von deren Krafft Lufft, Welt und Himmel ſind,
Des Hoͤchſten Meiſter-Recht, und erſtgebohrnes Kind,
Du Schweſter aller Zeit, du Mutter aller Dinge,
O Goͤttin, goͤnne mir, daß mein Gemuͤthe dringe
Jn deiner Wercke Reich, und etwas ſagen mag,
Davon kein deutſcher Mund noch bis auf dieſen Tag
Poetiſch hat geredt.

Haͤtte er es nun dabey bewenden laſſen, ſo waͤre es gut gewe-
ſen: Aber er faͤhrt fort, und rufft auch den Apollo nebſt allen
Muſen herbey, die doch bey dieſer Materie vom Veſuvius
nichts zu ſagen haben:

Jch will mit Wahrheit ſchreiben
Warum Veſuvius kan Steine von ſich treiben,
Woher ſein Brennen ruͤhrt, und was es etwa ſey
Davon die Glut ſich naͤhrt. Apollo komm herbey
Mit
K k 3
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[517/0545] Von dogmatiſchen Poeſien. und die vier Buͤcher der Troſt-Gedichte werth, daß ſie der Jugend beyzeiten in die Haͤnde gegeben, erklaͤret, und von derſelben von Wort zu Wort auswendig gelernet wuͤrden. Dieſes wuͤrde derſelben mehr edle Maximen und Sitten- Lehren geben, als die lateiniſchen Spruͤch elchen, ſo ſie mehren- theils ohne Verſtand herbeten lernt und laͤnger nicht bewahrt, Als bis der kluge Sohn nach Papageyen Art, Sie zu der Eltern Troſt dem Lehrer nachgeſprochen. Die alten Griechen hieltens mit ihrem Homer ſo; und ich weiß nicht warum wir gegen den Vater unſrer Poeten noch ſo un- danckbar ſind, da doch ſeine oberwehnte Gedichte mehr guͤl- dene Lehren in ſich faſſen als die gantze Jlias nnd Odyſſee. Ob man in dieſer Gattung von Gedichten die Muſen oder ſonſt eine Gottheit um ihren Beyſtand anruffen koͤnne, iſt im Vten Cap. des Iſten Theils bereits gewieſen worden. Von Lucretio iſt bekannt, daß er die Venus angeruffen, weil ſie der Erzeugung aller Dinge vorſteht. Virgil in ſeinen Georgicis rufft ein gantzes Dutzend Goͤtter an, die beym Feld-Bau was zu thun haben. Opitz rufft in ſeinem Ve- ſuvius die Natur an, weil er von natuͤrlichen Wundern ſchreiben will: Natur, von deren Krafft Lufft, Welt und Himmel ſind, Des Hoͤchſten Meiſter-Recht, und erſtgebohrnes Kind, Du Schweſter aller Zeit, du Mutter aller Dinge, O Goͤttin, goͤnne mir, daß mein Gemuͤthe dringe Jn deiner Wercke Reich, und etwas ſagen mag, Davon kein deutſcher Mund noch bis auf dieſen Tag Poetiſch hat geredt. Haͤtte er es nun dabey bewenden laſſen, ſo waͤre es gut gewe- ſen: Aber er faͤhrt fort, und rufft auch den Apollo nebſt allen Muſen herbey, die doch bey dieſer Materie vom Veſuvius nichts zu ſagen haben: Jch will mit Wahrheit ſchreiben Warum Veſuvius kan Steine von ſich treiben, Woher ſein Brennen ruͤhrt, und was es etwa ſey Davon die Glut ſich naͤhrt. Apollo komm herbey Mit K k 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/545>, abgerufen am 22.11.2024.