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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.
275Seit dem der Mauren Kreis, sich weiter aus gedehnt,
Die reichen Bürger sich das Schmausen angewehnt,
Weil sie kein Richter schilt, wenn sie bey Tage prassen:
So hat auch Reim und Thon den alten Klang verlassen.
Denn was verstund davon ein Bauer, dessen Fleiß
280Von schwerer Arbeit kam, der meistens voller Schweiß

Jn unsern Schauplatz trat, wohin sich alles drengte,
Wenn Pöbel, Herr und Knecht sich durcheinander mengte.
Drum hat Music und Tantz die alte Kunst erhöht,
Der Pfeifer, der so stoltz stets hin und wieder geht,
285Schleppt itzt den langen Rock gantz prächtig auf den Bühnen;

So must in Griechenland die Cyther gleichfalls dienen.
277
279
284
286
288
290

Die
277 Bey Tage prassen. Die alten Römer schmauseten nicht sehr; und wenn
sie es ja thaten, geschah es des Abends. Aber als der Uberfluß die Bürger wollüstig
gemacht hatte, pflegten sie es auch bey hellem Tage zu thun; und das ward ihnen
von keinem Sittenrichter oder sonst von jemanden verboten.
279 Ein Bauer. Die alten Römer trieben fast alle den Ackerbau und man
hat wohl eher einen Bürgermeister oder Dictator hinter dem Pfluge suchen müssen.
Solche Landleute nun waren keine sonderliche Kenner von Poesie und Music: Es
war schon gut genug vor sie, so schlecht es immer seyn mochte.
284 Der Pfeifer. Die Musicanten gehörten mit zum Chore der Alten,
und stunden also mit auf der Bühne, daß man sie sahe. Da nun ihre Music sehr
künstlich, zärtlich und wollüstig geworden war, so trugen sie auch prächtige lange
Kleider mit grossen Schweifen, dergleichen die andern tragischen Personen hatten.
286 Die Cyther. Die Leyer, Harfe oder wie man das Wort Fides geben will.
Sie ward vorzeiten in Griechenland, eben sowohl als die Pfeifen in Rom, beym Cho-
re der Tragödien gebraucht. Horatz will hier sagen, daß sie auch anfänglich nur
schlecht weg und ohne alle Kunst gespielet worden; allmählich aber gantz zärtlich,
wollüstig und frech geworden, das heist: Fidibus seueris voces creuere. Was
von der Music gesagt worden gilt auch von der Poesie der Griechen; wie die folgen-
den Verße zeugen.
288 Geschwulst. Horatz sagt eloquium insolitum, und facundia prae-
ceps,
beydes zeigt die hochtrabende Art des Ausdruckes, und die schwülstige Dun-
ckelheit der griechischen Oden an, die der Chor singen muste. Die Ode muß freylich
wohl eine edle Schreibart haben; aber die Poeten triebens zu hoch, und machtens
endlich so arg, daß man sie nicht besser verstehen konnte, als die Antworten der
Orackel, die doch gantz zweydeutig zu seyn pflegten.
290 Düfften. Es ist bekannt, daß zu Delphis aus einer unterirrdischen Höle
ein gewisser Dampf aufgestiegen, der nach dem gemeinen Aberglauben, der auf
einem Dreyfusse darüber sitzenden Priesterin, die prophetische Wissenschaft künff-
tiger Dinge von unten zu eingehauchet. Diese prophezeyhende Schreibart nahmen
die

Horatius von der Dicht-Kunſt.
275Seit dem der Mauren Kreis, ſich weiter aus gedehnt,
Die reichen Buͤrger ſich das Schmauſen angewehnt,
Weil ſie kein Richter ſchilt, wenn ſie bey Tage praſſen:
So hat auch Reim und Thon den alten Klang verlaſſen.
Denn was verſtund davon ein Bauer, deſſen Fleiß
280Von ſchwerer Arbeit kam, der meiſtens voller Schweiß

Jn unſern Schauplatz trat, wohin ſich alles drengte,
Wenn Poͤbel, Herr und Knecht ſich durcheinander mengte.
Drum hat Muſic und Tantz die alte Kunſt erhoͤht,
Der Pfeifer, der ſo ſtoltz ſtets hin und wieder geht,
285Schleppt itzt den langen Rock gantz praͤchtig auf den Buͤhnen;

So muſt in Griechenland die Cyther gleichfalls dienen.
277
279
284
286
288
290

Die
277 Bey Tage praſſen. Die alten Roͤmer ſchmauſeten nicht ſehr; und wenn
ſie es ja thaten, geſchah es des Abends. Aber als der Uberfluß die Buͤrger wolluͤſtig
gemacht hatte, pflegten ſie es auch bey hellem Tage zu thun; und das ward ihnen
von keinem Sittenrichter oder ſonſt von jemanden verboten.
279 Ein Bauer. Die alten Roͤmer trieben faſt alle den Ackerbau und man
hat wohl eher einen Buͤrgermeiſter oder Dictator hinter dem Pfluge ſuchen muͤſſen.
Solche Landleute nun waren keine ſonderliche Kenner von Poeſie und Muſic: Es
war ſchon gut genug vor ſie, ſo ſchlecht es immer ſeyn mochte.
284 Der Pfeifer. Die Muſicanten gehoͤrten mit zum Chore der Alten,
und ſtunden alſo mit auf der Buͤhne, daß man ſie ſahe. Da nun ihre Muſic ſehr
kuͤnſtlich, zaͤrtlich und wolluͤſtig geworden war, ſo trugen ſie auch praͤchtige lange
Kleider mit groſſen Schweifen, dergleichen die andern tragiſchen Perſonen hatten.
286 Die Cyther. Die Leyer, Harfe oder wie man das Wort Fides geben will.
Sie ward vorzeiten in Griechenland, eben ſowohl als die Pfeifen in Rom, beym Cho-
re der Tragoͤdien gebraucht. Horatz will hier ſagen, daß ſie auch anfaͤnglich nur
ſchlecht weg und ohne alle Kunſt geſpielet worden; allmaͤhlich aber gantz zaͤrtlich,
wolluͤſtig und frech geworden, das heiſt: Fidibus ſeueris voces creuere. Was
von der Muſic geſagt worden gilt auch von der Poeſie der Griechen; wie die folgen-
den Verße zeugen.
288 Geſchwulſt. Horatz ſagt eloquium inſolitum, und facundia prae-
ceps,
beydes zeigt die hochtrabende Art des Ausdruckes, und die ſchwuͤlſtige Dun-
ckelheit der griechiſchen Oden an, die der Chor ſingen muſte. Die Ode muß freylich
wohl eine edle Schreibart haben; aber die Poeten triebens zu hoch, und machtens
endlich ſo arg, daß man ſie nicht beſſer verſtehen konnte, als die Antworten der
Orackel, die doch gantz zweydeutig zu ſeyn pflegten.
290 Düfften. Es iſt bekannt, daß zu Delphis aus einer unterirrdiſchen Hoͤle
ein gewiſſer Dampf aufgeſtiegen, der nach dem gemeinen Aberglauben, der auf
einem Dreyfuſſe daruͤber ſitzenden Prieſterin, die prophetiſche Wiſſenſchaft kuͤnff-
tiger Dinge von unten zu eingehauchet. Dieſe prophezeyhende Schreibart nahmen
die
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[28/0056] Horatius von der Dicht-Kunſt. Seit dem der Mauren Kreis, ſich weiter aus gedehnt, Die reichen Buͤrger ſich das Schmauſen angewehnt, Weil ſie kein Richter ſchilt, wenn ſie bey Tage praſſen: So hat auch Reim und Thon den alten Klang verlaſſen. Denn was verſtund davon ein Bauer, deſſen Fleiß Von ſchwerer Arbeit kam, der meiſtens voller Schweiß Jn unſern Schauplatz trat, wohin ſich alles drengte, Wenn Poͤbel, Herr und Knecht ſich durcheinander mengte. Drum hat Muſic und Tantz die alte Kunſt erhoͤht, Der Pfeifer, der ſo ſtoltz ſtets hin und wieder geht, Schleppt itzt den langen Rock gantz praͤchtig auf den Buͤhnen; So muſt in Griechenland die Cyther gleichfalls dienen. Die 277 279 284 286 288 290 277 Bey Tage praſſen. Die alten Roͤmer ſchmauſeten nicht ſehr; und wenn ſie es ja thaten, geſchah es des Abends. Aber als der Uberfluß die Buͤrger wolluͤſtig gemacht hatte, pflegten ſie es auch bey hellem Tage zu thun; und das ward ihnen von keinem Sittenrichter oder ſonſt von jemanden verboten. 279 Ein Bauer. Die alten Roͤmer trieben faſt alle den Ackerbau und man hat wohl eher einen Buͤrgermeiſter oder Dictator hinter dem Pfluge ſuchen muͤſſen. Solche Landleute nun waren keine ſonderliche Kenner von Poeſie und Muſic: Es war ſchon gut genug vor ſie, ſo ſchlecht es immer ſeyn mochte. 284 Der Pfeifer. Die Muſicanten gehoͤrten mit zum Chore der Alten, und ſtunden alſo mit auf der Buͤhne, daß man ſie ſahe. Da nun ihre Muſic ſehr kuͤnſtlich, zaͤrtlich und wolluͤſtig geworden war, ſo trugen ſie auch praͤchtige lange Kleider mit groſſen Schweifen, dergleichen die andern tragiſchen Perſonen hatten. 286 Die Cyther. Die Leyer, Harfe oder wie man das Wort Fides geben will. Sie ward vorzeiten in Griechenland, eben ſowohl als die Pfeifen in Rom, beym Cho- re der Tragoͤdien gebraucht. Horatz will hier ſagen, daß ſie auch anfaͤnglich nur ſchlecht weg und ohne alle Kunſt geſpielet worden; allmaͤhlich aber gantz zaͤrtlich, wolluͤſtig und frech geworden, das heiſt: Fidibus ſeueris voces creuere. Was von der Muſic geſagt worden gilt auch von der Poeſie der Griechen; wie die folgen- den Verße zeugen. 288 Geſchwulſt. Horatz ſagt eloquium inſolitum, und facundia prae- ceps, beydes zeigt die hochtrabende Art des Ausdruckes, und die ſchwuͤlſtige Dun- ckelheit der griechiſchen Oden an, die der Chor ſingen muſte. Die Ode muß freylich wohl eine edle Schreibart haben; aber die Poeten triebens zu hoch, und machtens endlich ſo arg, daß man ſie nicht beſſer verſtehen konnte, als die Antworten der Orackel, die doch gantz zweydeutig zu ſeyn pflegten. 290 Düfften. Es iſt bekannt, daß zu Delphis aus einer unterirrdiſchen Hoͤle ein gewiſſer Dampf aufgeſtiegen, der nach dem gemeinen Aberglauben, der auf einem Dreyfuſſe daruͤber ſitzenden Prieſterin, die prophetiſche Wiſſenſchaft kuͤnff- tiger Dinge von unten zu eingehauchet. Dieſe prophezeyhende Schreibart nahmen die

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/56>, abgerufen am 24.11.2024.