Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils IX Capitel ben sich nicht nur den Beyfall von Griechen-Land, sonderndie Hochachtung und Bewunderung des tiefsinnigsten unter allen alten Welt-Weisen Aristotelis, erworben. Dieses letztere ist mir von größern Gewichte als das erste; denn das scharfsichtige Critische Auge eines Kunst-verständigen sieht auf das innerste Wesen einer Sache. Da hergegen der un- verständige Pöbel, ja auch die Menge der halbgelehrten der- gleichen Werck nur obenhin ansieht; und weder alle Schön- beiten noch alle Fehler desselben wahrzunehmen im Stande ist. Man hat sich also nicht an das Lob oder den Tadel ei- nes jeden halbigten Critici zu kehren, wenn von den Verdien- sten Homeri die Frage ist. Viele haben ihn ohne Einsicht gepriesen, damit sie nur davor angesehen würden, als ob sie ihn verstanden hätten: Viele haben ihn auch ohne Grund ge- tadelt, damit sie nur das Ansehen hätten, als verstünden sie besser was zur Poesie gehört, als andre, die Homerum ver- theidigten und lobten. Jn Franckreich hat man nur vor et- wa zwantzig Jahren einen grossen Feder-Krieg darüber ge- habt, wo sich Perrault, Fontenelle und De la Motte wieder die Alten; Boileau aber, Corneille, Racine und die Frau Dacier nebst ihrem Manne, vor die Alten erkläret und sie in vielen Stücken verfochten haben. Man kan von diesem gantzen Streite mit Vergnügen nachlesen, was Furetiere in seiner Nouvelle allegorique, ou Histoire des derniers Troubles arri- vez au Royaume d'Eloquence, und Des Callieres, in seiner Histoire Poetique de la Guerre nouvellement declaree entre les Anciens & les Modernes davon geschrieben haben. Die Jlias Homeri hat zu ihrer Haupt-Absicht den Zorn vier
Des II Theils IX Capitel ben ſich nicht nur den Beyfall von Griechen-Land, ſonderndie Hochachtung und Bewunderung des tiefſinnigſten unter allen alten Welt-Weiſen Ariſtotelis, erworben. Dieſes letztere iſt mir von groͤßern Gewichte als das erſte; denn das ſcharfſichtige Critiſche Auge eines Kunſt-verſtaͤndigen ſieht auf das innerſte Weſen einer Sache. Da hergegen der un- verſtaͤndige Poͤbel, ja auch die Menge der halbgelehrten der- gleichen Werck nur obenhin anſieht; und weder alle Schoͤn- beiten noch alle Fehler deſſelben wahrzunehmen im Stande iſt. Man hat ſich alſo nicht an das Lob oder den Tadel ei- nes jeden halbigten Critici zu kehren, wenn von den Verdien- ſten Homeri die Frage iſt. Viele haben ihn ohne Einſicht geprieſen, damit ſie nur davor angeſehen wuͤrden, als ob ſie ihn verſtanden haͤtten: Viele haben ihn auch ohne Grund ge- tadelt, damit ſie nur das Anſehen haͤtten, als verſtuͤnden ſie beſſer was zur Poeſie gehoͤrt, als andre, die Homerum ver- theidigten und lobten. Jn Franckreich hat man nur vor et- wa zwantzig Jahren einen groſſen Feder-Krieg daruͤber ge- habt, wo ſich Perrault, Fontenelle und De la Motte wieder die Alten; Boileau aber, Corneille, Racine und die Frau Dacier nebſt ihrem Manne, vor die Alten erklaͤret und ſie in vielen Stuͤcken verfochten haben. Man kan von dieſem gantzen Streite mit Vergnuͤgen nachleſen, was Furetiere in ſeiner Nouvelle allegorique, ou Hiſtoire des derniers Troubles arri- vez au Royaume d’Eloquence, und Des Callieres, in ſeiner Hiſtoire Poetique de la Guerre nouvellement declarée entre les Anciens & les Modernes davon geſchrieben haben. Die Jlias Homeri hat zu ihrer Haupt-Abſicht den Zorn vier
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Des II Theils IX Capitel
ben ſich nicht nur den Beyfall von Griechen-Land, ſondern
die Hochachtung und Bewunderung des tiefſinnigſten unter
allen alten Welt-Weiſen Ariſtotelis, erworben. Dieſes
letztere iſt mir von groͤßern Gewichte als das erſte; denn das
ſcharfſichtige Critiſche Auge eines Kunſt-verſtaͤndigen ſieht
auf das innerſte Weſen einer Sache. Da hergegen der un-
verſtaͤndige Poͤbel, ja auch die Menge der halbgelehrten der-
gleichen Werck nur obenhin anſieht; und weder alle Schoͤn-
beiten noch alle Fehler deſſelben wahrzunehmen im Stande
iſt. Man hat ſich alſo nicht an das Lob oder den Tadel ei-
nes jeden halbigten Critici zu kehren, wenn von den Verdien-
ſten Homeri die Frage iſt. Viele haben ihn ohne Einſicht
geprieſen, damit ſie nur davor angeſehen wuͤrden, als ob ſie
ihn verſtanden haͤtten: Viele haben ihn auch ohne Grund ge-
tadelt, damit ſie nur das Anſehen haͤtten, als verſtuͤnden ſie
beſſer was zur Poeſie gehoͤrt, als andre, die Homerum ver-
theidigten und lobten. Jn Franckreich hat man nur vor et-
wa zwantzig Jahren einen groſſen Feder-Krieg daruͤber ge-
habt, wo ſich Perrault, Fontenelle und De la Motte wieder die
Alten; Boileau aber, Corneille, Racine und die Frau Dacier
nebſt ihrem Manne, vor die Alten erklaͤret und ſie in vielen
Stuͤcken verfochten haben. Man kan von dieſem gantzen
Streite mit Vergnuͤgen nachleſen, was Furetiere in ſeiner
Nouvelle allegorique, ou Hiſtoire des derniers Troubles arri-
vez au Royaume d’Eloquence, und Des Callieres, in ſeiner
Hiſtoire Poetique de la Guerre nouvellement declarée entre
les Anciens & les Modernes davon geſchrieben haben.
Die Jlias Homeri hat zu ihrer Haupt-Abſicht den Zorn
Achillis zu beſingen, der zwiſchen dieſem Helden, und dem
Heer-Fuͤhrer der gantzen Griechiſchen Armee Agamemnon
im Lager vor Troja vorgefallen; und ſo wohl vor die Bela-
gerer als vor die Belagerten ſehr traurige Wirckungen nach
ſich gezogen. Der Poet ſagt gleich im Anfange des Gedich-
tes, daß dieſes ſein Vorhaben ſey, und da die Ausfuͤhrung
mit ſeinem Vortrage vollkommen uͤbereinſtimmt, ſo muß
man ſich wundern, daß die Critici noch lange an ſeiner Ab-
ſicht haben zweifeln koͤnnen. Es enthaͤlt alſo dieſe Jlias in
vier
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