Aus der Odyssee hat uns Aristoteles selbst folgenden kurtzen Auszug gemacht: Ulysses, der mit vor Troja gewe- sen, wird auf seiner Rückreise vom Neptun verfolget, welcher ihn durch Sturm-Winde und Ungewitter aller seiner Ge- fehrten beraubet, so, daß er endlich gantz allein in mancherley Gefährlichkeiten herum schweifen und eine lange Zeit von Hause abwesend seynimuß. Jndessen ist in seinem Jthaca al- les in Unordnung. Die Liebhaber seiner Gemahlin ver- prassen alle ihr Vermögen, und stehen seinem Sohne Tele- mach selbst nach dem Leben: bis er endlich in armseeliger Ge- stalt nach Hause kommt, etliche betrügt, seine Feinde ermor- det und sein Reich wieder in Ordnung bringet.
Diese Fabel begreift ein Lob des klugen und standhaften Ulysses in sich, wie abermahl der Poet im Anfange selbst an- gezeiget hat, wenn er nach Horatii Ubersetzung die Muse so anrufft:
Die mihi Musa virum, captae post tempora Trojae Qui mores hominum multorum vidit & urbes.
Sie begreift eine Zeit von neun und funfzig Tagen in sich, und dauret also etwas länger als jene; weil der Zorn Achillis als ein Affect unmöglich so lange dauren konnte als eine Reise. Doch ist die Absicht des Poeten nicht nur den Helden zu loben, sondern eben unter diesen Erzehlungen seine moralische Lehren zu verstecken. Er will den Griechen beybringen, daß die Ab- wesenheit eines Haus-Vaters oder Regenten üble Folgen nach sich ziehe; seine Gegenwart aber sehr ersprießlich sey. Damit aber diese Abwesenheit nicht dem Ulysses zum Vor- wurfe gereichen könne, so setzt er ihn in solche Umstände, da er wider Willen abwesend seyn muß. Er hatte als das Haupt seiner Armee vor Troja ziehen müssen: und als er eben zurücke will; so kan er nicht, und wird uns gleich im Anfange des Gedichtes, auf einer Jnsel am Ufer des Meeres sitzend, mit thränenden Augen, und sehnlicher Begierde nach seiner Heimat vorgestellet. Jndem der Poet aber theils den Helden aus der langen Erfahrung zu einer vollkommenen Klugheit gelangen; theils seine Penelope und den jungen Te- lemach so viele Proben ihrer Tugend ausstehen; theils die Ge-
fehrten
Des II Theils IX Capitel
Aus der Odyſſee hat uns Ariſtoteles ſelbſt folgenden kurtzen Auszug gemacht: Ulyſſes, der mit vor Troja gewe- ſen, wird auf ſeiner Ruͤckreiſe vom Neptun verfolget, welcher ihn durch Sturm-Winde und Ungewitter aller ſeiner Ge- fehrten beraubet, ſo, daß er endlich gantz allein in mancherley Gefaͤhrlichkeiten herum ſchweifen und eine lange Zeit von Hauſe abweſend ſeynimuß. Jndeſſen iſt in ſeinem Jthaca al- les in Unordnung. Die Liebhaber ſeiner Gemahlin ver- praſſen alle ihr Vermoͤgen, und ſtehen ſeinem Sohne Tele- mach ſelbſt nach dem Leben: bis er endlich in armſeeliger Ge- ſtalt nach Hauſe kommt, etliche betruͤgt, ſeine Feinde ermor- det und ſein Reich wieder in Ordnung bringet.
Dieſe Fabel begreift ein Lob des klugen und ſtandhaften Ulyſſes in ſich, wie abermahl der Poet im Anfange ſelbſt an- gezeiget hat, wenn er nach Horatii Uberſetzung die Muſe ſo anrufft:
Die mihi Muſa virum, captae poſt tempora Trojae Qui mores hominum multorum vidit & urbes.
Sie begreift eine Zeit von neun und funfzig Tagen in ſich, und dauret alſo etwas laͤnger als jene; weil der Zorn Achillis als ein Affect unmoͤglich ſo lange dauren konnte als eine Reiſe. Doch iſt die Abſicht des Poeten nicht nur den Helden zu loben, ſondern eben unter dieſen Erzehlungen ſeine moraliſche Lehren zu verſtecken. Er will den Griechen beybringen, daß die Ab- weſenheit eines Haus-Vaters oder Regenten uͤble Folgen nach ſich ziehe; ſeine Gegenwart aber ſehr erſprießlich ſey. Damit aber dieſe Abweſenheit nicht dem Ulyſſes zum Vor- wurfe gereichen koͤnne, ſo ſetzt er ihn in ſolche Umſtaͤnde, da er wider Willen abweſend ſeyn muß. Er hatte als das Haupt ſeiner Armee vor Troja ziehen muͤſſen: und als er eben zuruͤcke will; ſo kan er nicht, und wird uns gleich im Anfange des Gedichtes, auf einer Jnſel am Ufer des Meeres ſitzend, mit thraͤnenden Augen, und ſehnlicher Begierde nach ſeiner Heimat vorgeſtellet. Jndem der Poet aber theils den Helden aus der langen Erfahrung zu einer vollkommenen Klugheit gelangen; theils ſeine Penelope und den jungen Te- lemach ſo viele Proben ihrer Tugend ausſtehen; theils die Ge-
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Des II Theils IX Capitel
Aus der Odyſſee hat uns Ariſtoteles ſelbſt folgenden
kurtzen Auszug gemacht: Ulyſſes, der mit vor Troja gewe-
ſen, wird auf ſeiner Ruͤckreiſe vom Neptun verfolget, welcher
ihn durch Sturm-Winde und Ungewitter aller ſeiner Ge-
fehrten beraubet, ſo, daß er endlich gantz allein in mancherley
Gefaͤhrlichkeiten herum ſchweifen und eine lange Zeit von
Hauſe abweſend ſeynimuß. Jndeſſen iſt in ſeinem Jthaca al-
les in Unordnung. Die Liebhaber ſeiner Gemahlin ver-
praſſen alle ihr Vermoͤgen, und ſtehen ſeinem Sohne Tele-
mach ſelbſt nach dem Leben: bis er endlich in armſeeliger Ge-
ſtalt nach Hauſe kommt, etliche betruͤgt, ſeine Feinde ermor-
det und ſein Reich wieder in Ordnung bringet.
Dieſe Fabel begreift ein Lob des klugen und ſtandhaften
Ulyſſes in ſich, wie abermahl der Poet im Anfange ſelbſt an-
gezeiget hat, wenn er nach Horatii Uberſetzung die Muſe ſo
anrufft:
Die mihi Muſa virum, captae poſt tempora Trojae
Qui mores hominum multorum vidit & urbes.
Sie begreift eine Zeit von neun und funfzig Tagen in ſich, und
dauret alſo etwas laͤnger als jene; weil der Zorn Achillis als
ein Affect unmoͤglich ſo lange dauren konnte als eine Reiſe.
Doch iſt die Abſicht des Poeten nicht nur den Helden zu loben,
ſondern eben unter dieſen Erzehlungen ſeine moraliſche Lehren
zu verſtecken. Er will den Griechen beybringen, daß die Ab-
weſenheit eines Haus-Vaters oder Regenten uͤble Folgen
nach ſich ziehe; ſeine Gegenwart aber ſehr erſprießlich ſey.
Damit aber dieſe Abweſenheit nicht dem Ulyſſes zum Vor-
wurfe gereichen koͤnne, ſo ſetzt er ihn in ſolche Umſtaͤnde, da
er wider Willen abweſend ſeyn muß. Er hatte als das
Haupt ſeiner Armee vor Troja ziehen muͤſſen: und als er
eben zuruͤcke will; ſo kan er nicht, und wird uns gleich im
Anfange des Gedichtes, auf einer Jnſel am Ufer des Meeres
ſitzend, mit thraͤnenden Augen, und ſehnlicher Begierde nach
ſeiner Heimat vorgeſtellet. Jndem der Poet aber theils
den Helden aus der langen Erfahrung zu einer vollkommenen
Klugheit gelangen; theils ſeine Penelope und den jungen Te-
lemach ſo viele Proben ihrer Tugend ausſtehen; theils die Ge-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/568>, abgerufen am 22.11.2024.
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