des erzürnten Achillis, allezeit mit Verlust von den Trojanern zurück geschlagen worden; nach der Versöhnung dieses Hel- den aber, grosse Vortheile über ihre belagerte Feinde befoch- ten. Aber auch das war noch nicht genug. Er muste uns auch die Ursachen der Uneinigkeit, und die Ursachen der erfolg- ten Aussöhnung, auf eine verständliche und wahrscheinliche Art entdecken, und also seine Fabel vollständig machen. Da- her erzehlet er, wie der Zorn Achilles über einer schönen Sela- vin, so ihm Agamemnon mit Gewalt nehmen lassen, entstan- den sey: Und wie endlich der Tod des Patroclus den erzürn- ten Held wieder bewogen habe, sich mit den Seinigen zu ver- einigen, und dieses Blut seines Freundes an dem Hector zu rächen. Nunmehro fehlet im Anfange nur die Ursache, warum doch Agamemnon den Achilles auf eine so empfindli- che Art beleidiget? Er hatte nehmlich die schöne Tochter des Priesters Apollinis, so ihm zu theil worden war, zurück geben müssen: als die Pest im Lager auf keine andre Art zu stillen war; und er also keine andre Beyschläferin zu haben gewust, oder haben gewollt, als die dem Achillis zugehörete.
Das heist nun eine gantze Fabel machen, die ihren An- fang, ihr Mittel und ihr Ende hat; so daß nichts daran fehlet. Es ist aber auch nichts überflüßiges darinn. Homer hat nicht den Anfang des Trojanischen Krieges, vielweniger die Entführung der Helena, und noch vielweniger die Geburt dieser Printzeßin aus den Eyern der Leda erzehlet; weswe- gen ihn Horatz mit Grunde gelobt hat. Dieses alles gehör- te nicht zum Zorne Achillis; ob es gleich vorher gegangen war, und zum voraus gesetzet werden muste. Der Poet sieht die- se Begebenheiten vor was bekanntes an, und geht seinem Zwecke zu. Nichts destoweniger hat er nicht unterlassen, seine Haupt-Fabel mit verschiedenen kleinen Zwischen-Fa- beln zu verlängern, die aber auch zum Verstande der haupt- sächlichsten nöthig waren. Alle diese haben wiederum ihre besondre Nutzbarkeit, weil sie neue moralische Wahrheiten in sich fassen; und dadurch den Leser unterrichten. Z. E. Wenn Patroclus die Rüstung des Achilles anzieht, und sei- ne Waffen ergreift: so fliehen die Trojaner schon vor ihm;
weil
Des II Theils IX Capitel
des erzuͤrnten Achillis, allezeit mit Verluſt von den Trojanern zuruͤck geſchlagen worden; nach der Verſoͤhnung dieſes Hel- den aber, groſſe Vortheile uͤber ihre belagerte Feinde befoch- ten. Aber auch das war noch nicht genug. Er muſte uns auch die Urſachen der Uneinigkeit, und die Urſachen der erfolg- ten Ausſoͤhnung, auf eine verſtaͤndliche und wahrſcheinliche Art entdecken, und alſo ſeine Fabel vollſtaͤndig machen. Da- her erzehlet er, wie der Zorn Achilles uͤber einer ſchoͤnen Sela- vin, ſo ihm Agamemnon mit Gewalt nehmen laſſen, entſtan- den ſey: Und wie endlich der Tod des Patroclus den erzuͤrn- ten Held wieder bewogen habe, ſich mit den Seinigen zu ver- einigen, und dieſes Blut ſeines Freundes an dem Hector zu raͤchen. Nunmehro fehlet im Anfange nur die Urſache, warum doch Agamemnon den Achilles auf eine ſo empfindli- che Art beleidiget? Er hatte nehmlich die ſchoͤne Tochter des Prieſters Apollinis, ſo ihm zu theil worden war, zuruͤck geben muͤſſen: als die Peſt im Lager auf keine andre Art zu ſtillen war; und er alſo keine andre Beyſchlaͤferin zu haben gewuſt, oder haben gewollt, als die dem Achillis zugehoͤrete.
Das heiſt nun eine gantze Fabel machen, die ihren An- fang, ihr Mittel und ihr Ende hat; ſo daß nichts daran fehlet. Es iſt aber auch nichts uͤberfluͤßiges darinn. Homer hat nicht den Anfang des Trojaniſchen Krieges, vielweniger die Entfuͤhrung der Helena, und noch vielweniger die Geburt dieſer Printzeßin aus den Eyern der Leda erzehlet; weswe- gen ihn Horatz mit Grunde gelobt hat. Dieſes alles gehoͤr- te nicht zum Zorne Achillis; ob es gleich vorher gegangen war, und zum voraus geſetzet werden muſte. Der Poet ſieht die- ſe Begebenheiten vor was bekanntes an, und geht ſeinem Zwecke zu. Nichts deſtoweniger hat er nicht unterlaſſen, ſeine Haupt-Fabel mit verſchiedenen kleinen Zwiſchen-Fa- beln zu verlaͤngern, die aber auch zum Verſtande der haupt- ſaͤchlichſten noͤthig waren. Alle dieſe haben wiederum ihre beſondre Nutzbarkeit, weil ſie neue moraliſche Wahrheiten in ſich faſſen; und dadurch den Leſer unterrichten. Z. E. Wenn Patroclus die Ruͤſtung des Achilles anzieht, und ſei- ne Waffen ergreift: ſo fliehen die Trojaner ſchon vor ihm;
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Des II Theils IX Capitel
des erzuͤrnten Achillis, allezeit mit Verluſt von den Trojanern
zuruͤck geſchlagen worden; nach der Verſoͤhnung dieſes Hel-
den aber, groſſe Vortheile uͤber ihre belagerte Feinde befoch-
ten. Aber auch das war noch nicht genug. Er muſte uns
auch die Urſachen der Uneinigkeit, und die Urſachen der erfolg-
ten Ausſoͤhnung, auf eine verſtaͤndliche und wahrſcheinliche
Art entdecken, und alſo ſeine Fabel vollſtaͤndig machen. Da-
her erzehlet er, wie der Zorn Achilles uͤber einer ſchoͤnen Sela-
vin, ſo ihm Agamemnon mit Gewalt nehmen laſſen, entſtan-
den ſey: Und wie endlich der Tod des Patroclus den erzuͤrn-
ten Held wieder bewogen habe, ſich mit den Seinigen zu ver-
einigen, und dieſes Blut ſeines Freundes an dem Hector zu
raͤchen. Nunmehro fehlet im Anfange nur die Urſache,
warum doch Agamemnon den Achilles auf eine ſo empfindli-
che Art beleidiget? Er hatte nehmlich die ſchoͤne Tochter des
Prieſters Apollinis, ſo ihm zu theil worden war, zuruͤck geben
muͤſſen: als die Peſt im Lager auf keine andre Art zu ſtillen
war; und er alſo keine andre Beyſchlaͤferin zu haben gewuſt,
oder haben gewollt, als die dem Achillis zugehoͤrete.
Das heiſt nun eine gantze Fabel machen, die ihren An-
fang, ihr Mittel und ihr Ende hat; ſo daß nichts daran fehlet.
Es iſt aber auch nichts uͤberfluͤßiges darinn. Homer hat
nicht den Anfang des Trojaniſchen Krieges, vielweniger die
Entfuͤhrung der Helena, und noch vielweniger die Geburt
dieſer Printzeßin aus den Eyern der Leda erzehlet; weswe-
gen ihn Horatz mit Grunde gelobt hat. Dieſes alles gehoͤr-
te nicht zum Zorne Achillis; ob es gleich vorher gegangen war,
und zum voraus geſetzet werden muſte. Der Poet ſieht die-
ſe Begebenheiten vor was bekanntes an, und geht ſeinem
Zwecke zu. Nichts deſtoweniger hat er nicht unterlaſſen,
ſeine Haupt-Fabel mit verſchiedenen kleinen Zwiſchen-Fa-
beln zu verlaͤngern, die aber auch zum Verſtande der haupt-
ſaͤchlichſten noͤthig waren. Alle dieſe haben wiederum ihre
beſondre Nutzbarkeit, weil ſie neue moraliſche Wahrheiten
in ſich faſſen; und dadurch den Leſer unterrichten. Z. E.
Wenn Patroclus die Ruͤſtung des Achilles anzieht, und ſei-
ne Waffen ergreift: ſo fliehen die Trojaner ſchon vor ihm;
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/578>, abgerufen am 27.07.2024.
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