Gedichte kan nicht größer seyn, als ein halbes Jahr. Ho- meri Jlias dauret nicht länger als 47 Tage, wie Aristoteles selbst angemercket. Seine Odyssee währet nur acht und funfzig Tage, wie der Pater le Bossu solches nachgezehlet hat, und also bedörfen beyde Gedichte noch nicht einmahl zwey Monate zu ihrer Dauer. Von Virgilio hat man sonst gemeiniglich davor gehalten, sein Gedichte daure ein Jahr und etliche Monate. Allein eben dieser Criticus hat es sehr wahrscheinlich erwiesen, daß auch die Eneis nur einen Som- mer und einen Herbst in sich begreife; in welcher Zeit Eneas aus Sicilien nach Africa, von da wieder zurück nach Sici- lien, endlich aber nach Jtalien geschiffet, und durch den Sieg über den Turnus zur Ruhe gekommen. Man muß ihn selbst deswegen nachschlagen um davon überführet zu werden.
Zum IVten kommen wir auf die Charactere der Perso- nen in einem Helden-Gedichte, die von den Alten die Sitten genennet werden. Man versteht aber nichts anders dadurch als die gantze Gemüthsart eines Menschen, seine natürliche Neigungen, seine angenommene Gewohnheit, und alles was daraus entsteht, das sind seine Worte und Handlungen. Man theilt diese Charactere in gute und schlimme ein: weil sie theils tugendhafft, theils lasterhafft sind, zuweilen schei- net es auch als ob es eine gleichgültige oder mittlere Art der- selben gäbe, die weder gut noch böse sind. Hier muß nun ein Poet die Moral verstehen, daß er die Tugend vom Laster, und wiederum die Schein-Tugend von der wahren zu unter- scheiden wisse. Man muß hier auch die bloßen Eigenschaff- ten der Menschen, z. E. die Wissenschafft, Klugheit, Erfah- rung, Beredsamkeit, Stärcke, Unerschrockenheit, u. s. w. mit wahren Tugenden nicht vermischen Jene kan sowohl ein Lasterhaffter als ein Tugendhaffter besitzen; denn sie än- dern eigentlich das Hertz nicht. Gewisse Tugenden oder La- ster zeigen sich nur in gewissen Gelegenheiten; als z. E. die Gnade, das Mitleiden, die Liebe, die Rachgier. Andre aber leuchten überall hervor, wie des Achilles Gewaltthätig- keit, des Ulysses Verschlagenheit, des Eneas Frömmigkeit. Und diese letztere Gemüthsarten sind eigentlich dasjenige was man Charactere nennet.
Alles
Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Gedichte kan nicht groͤßer ſeyn, als ein halbes Jahr. Ho- meri Jlias dauret nicht laͤnger als 47 Tage, wie Ariſtoteles ſelbſt angemercket. Seine Odyſſee waͤhret nur acht und funfzig Tage, wie der Pater le Boſſu ſolches nachgezehlet hat, und alſo bedoͤrfen beyde Gedichte noch nicht einmahl zwey Monate zu ihrer Dauer. Von Virgilio hat man ſonſt gemeiniglich davor gehalten, ſein Gedichte daure ein Jahr und etliche Monate. Allein eben dieſer Criticus hat es ſehr wahrſcheinlich erwieſen, daß auch die Eneis nur einen Som- mer und einen Herbſt in ſich begreife; in welcher Zeit Eneas aus Sicilien nach Africa, von da wieder zuruͤck nach Sici- lien, endlich aber nach Jtalien geſchiffet, und durch den Sieg uͤber den Turnus zur Ruhe gekommen. Man muß ihn ſelbſt deswegen nachſchlagen um davon uͤberfuͤhret zu werden.
Zum IVten kommen wir auf die Charactere der Perſo- nen in einem Helden-Gedichte, die von den Alten die Sitten genennet werden. Man verſteht aber nichts anders dadurch als die gantze Gemuͤthsart eines Menſchen, ſeine natuͤrliche Neigungen, ſeine angenommene Gewohnheit, und alles was daraus entſteht, das ſind ſeine Worte und Handlungen. Man theilt dieſe Charactere in gute und ſchlimme ein: weil ſie theils tugendhafft, theils laſterhafft ſind, zuweilen ſchei- net es auch als ob es eine gleichguͤltige oder mittlere Art der- ſelben gaͤbe, die weder gut noch boͤſe ſind. Hier muß nun ein Poet die Moral verſtehen, daß er die Tugend vom Laſter, und wiederum die Schein-Tugend von der wahren zu unter- ſcheiden wiſſe. Man muß hier auch die bloßen Eigenſchaff- ten der Menſchen, z. E. die Wiſſenſchafft, Klugheit, Erfah- rung, Beredſamkeit, Staͤrcke, Unerſchrockenheit, u. ſ. w. mit wahren Tugenden nicht vermiſchen Jene kan ſowohl ein Laſterhaffter als ein Tugendhaffter beſitzen; denn ſie aͤn- dern eigentlich das Hertz nicht. Gewiſſe Tugenden oder La- ſter zeigen ſich nur in gewiſſen Gelegenheiten; als z. E. die Gnade, das Mitleiden, die Liebe, die Rachgier. Andre aber leuchten uͤberall hervor, wie des Achilles Gewaltthaͤtig- keit, des Ulyſſes Verſchlagenheit, des Eneas Froͤmmigkeit. Und dieſe letztere Gemuͤthsarten ſind eigentlich dasjenige was man Charactere nennet.
Alles
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Gedichte kan nicht groͤßer ſeyn, als ein halbes Jahr. Ho-
meri Jlias dauret nicht laͤnger als 47 Tage, wie Ariſtoteles
ſelbſt angemercket. Seine Odyſſee waͤhret nur acht und
funfzig Tage, wie der Pater le Boſſu ſolches nachgezehlet
hat, und alſo bedoͤrfen beyde Gedichte noch nicht einmahl
zwey Monate zu ihrer Dauer. Von Virgilio hat man ſonſt
gemeiniglich davor gehalten, ſein Gedichte daure ein Jahr
und etliche Monate. Allein eben dieſer Criticus hat es ſehr
wahrſcheinlich erwieſen, daß auch die Eneis nur einen Som-
mer und einen Herbſt in ſich begreife; in welcher Zeit Eneas
aus Sicilien nach Africa, von da wieder zuruͤck nach Sici-
lien, endlich aber nach Jtalien geſchiffet, und durch den Sieg
uͤber den Turnus zur Ruhe gekommen. Man muß ihn ſelbſt
deswegen nachſchlagen um davon uͤberfuͤhret zu werden.
Zum IVten kommen wir auf die Charactere der Perſo-
nen in einem Helden-Gedichte, die von den Alten die Sitten
genennet werden. Man verſteht aber nichts anders dadurch
als die gantze Gemuͤthsart eines Menſchen, ſeine natuͤrliche
Neigungen, ſeine angenommene Gewohnheit, und alles was
daraus entſteht, das ſind ſeine Worte und Handlungen.
Man theilt dieſe Charactere in gute und ſchlimme ein: weil
ſie theils tugendhafft, theils laſterhafft ſind, zuweilen ſchei-
net es auch als ob es eine gleichguͤltige oder mittlere Art der-
ſelben gaͤbe, die weder gut noch boͤſe ſind. Hier muß nun ein
Poet die Moral verſtehen, daß er die Tugend vom Laſter,
und wiederum die Schein-Tugend von der wahren zu unter-
ſcheiden wiſſe. Man muß hier auch die bloßen Eigenſchaff-
ten der Menſchen, z. E. die Wiſſenſchafft, Klugheit, Erfah-
rung, Beredſamkeit, Staͤrcke, Unerſchrockenheit, u. ſ. w.
mit wahren Tugenden nicht vermiſchen Jene kan ſowohl
ein Laſterhaffter als ein Tugendhaffter beſitzen; denn ſie aͤn-
dern eigentlich das Hertz nicht. Gewiſſe Tugenden oder La-
ſter zeigen ſich nur in gewiſſen Gelegenheiten; als z. E. die
Gnade, das Mitleiden, die Liebe, die Rachgier. Andre
aber leuchten uͤberall hervor, wie des Achilles Gewaltthaͤtig-
keit, des Ulyſſes Verſchlagenheit, des Eneas Froͤmmigkeit.
Und dieſe letztere Gemuͤthsarten ſind eigentlich dasjenige was
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/587>, abgerufen am 22.11.2024.
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