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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Wie sonst die Zärtlichkeit der edlen Jugend spricht.
Auch überhäuft den Vers mit schnöden Fratzen nicht,
Schreibt niemahls ärgerlich und lernt das Lästern meiden,
Den Unflath kan kein Mensch von gutem Stande leiden;
335Kein züchtiges Gemüth, das Ehr und Tugend liebt.

Denn ob der Pöbel euch gleich seinen Beyfall giebt,
Wird doch ein edler Geist euch allezeit verhöhnen.
Und eure Scheiteln nie mit Lorber-Zweigen krönen.

Ein Jambus heisst vorlängst in unsrer Kunst ein Fuß,
340Da eine Sylbe kurz die andre lang seyn muß.

Er fliesset schnell und leicht, daher er solchen Zeilen,
Darinn er sechsmahl klappt den Nahmen lässt ertheilen.
Daß man sie dreyfach nennt. Von Anfang hat er sich
Mit andern nicht vermischt. Nur neulich aber wich
345Derselbe hier und dar den langsamen Spondeen,

Um desto männlicher damit einherzugehen.
Doch so gefällig er in diesem Falle war;
So wich er doch nicht gantz. Das zweyt und vierte Paar
Der Sylben hat er sich beständig vorbehalten.
350Man spürt ihn auch bereits in mancher Schrifft der Alten.
336
343
346
Es
Städten eher, als auf dem Lande bey der Einfalt gefunden werden. Virgil ist in
seinen Schäfer-Gedichten so keusch, daß er seinen Silenus nicht einmahl etwas
anstößiges sagen läßt; Er verspricht seinen Zuhörern die gern Verße hören wollten,
was vorzusingen, seiner Nymphe Aegle aber, etwas anders zur Belohnung: Car-
mina quae vultis cognoscite; Carmina vobis; (scil. dabo) Huic (scil. Aeglae)
aliud mercedis erit.
Wie hätte er sich hier züchtiger ausdrücken sollen?
336 Der Pöbel. Fricti ciceris aut nucis emtor. Man verkaufte in Rom
gekochte Erbsen und gebratene Nüsse oder vielleicht Castanien, und diese kaufte
wohl auf der Gasse nur das gemeinste Volck. Solche Leute liebten damahls auch
schon die unflätigsten Possen; aber die Vornehmern hatten einen bessern Geschmack.
343 Dreyfach. Der Jambus ist geschwinde in der Aussprache; denn die erste
Sylbe ist kurtz, und man fällt allsofort mit dem Accente auf die andre lange. Sechs-
füßige Jamben also hiessen dreyfache; weil man gleichsam zwey Jamben zusammen
nahm und als einen gedoppelten Fuß zehlete. Jm Deutschen gehen unsre sechsfache
Jamben so geschwinde nicht von der Zunge, weil unsre Sprache zuviel Consonan-
tes hat, die bey den kurzen Sylben sowohl als bey den langen häusig vorkommen.
346 Desto männlicher. Die Spondeen klingen freylich männlicher, weil sie
aus zwo langen Sylben bestehen, und daher haben die lateinischen Poeten gemei-
niglich

Horatius von der Dicht-Kunſt.

Wie ſonſt die Zaͤrtlichkeit der edlen Jugend ſpricht.
Auch uͤberhaͤuft den Vers mit ſchnoͤden Fratzen nicht,
Schreibt niemahls aͤrgerlich und lernt das Laͤſtern meiden,
Den Unflath kan kein Menſch von gutem Stande leiden;
335Kein zuͤchtiges Gemuͤth, das Ehr und Tugend liebt.

Denn ob der Poͤbel euch gleich ſeinen Beyfall giebt,
Wird doch ein edler Geiſt euch allezeit verhoͤhnen.
Und eure Scheiteln nie mit Lorber-Zweigen kroͤnen.

Ein Jambus heiſſt vorlaͤngſt in unſrer Kunſt ein Fuß,
340Da eine Sylbe kurz die andre lang ſeyn muß.

Er flieſſet ſchnell und leicht, daher er ſolchen Zeilen,
Darinn er ſechsmahl klappt den Nahmen laͤſſt ertheilen.
Daß man ſie dreyfach nennt. Von Anfang hat er ſich
Mit andern nicht vermiſcht. Nur neulich aber wich
345Derſelbe hier und dar den langſamen Spondeen,

Um deſto maͤnnlicher damit einherzugehen.
Doch ſo gefaͤllig er in dieſem Falle war;
So wich er doch nicht gantz. Das zweyt und vierte Paar
Der Sylben hat er ſich beſtaͤndig vorbehalten.
350Man ſpuͤrt ihn auch bereits in mancher Schrifft der Alten.
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343
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Es
Staͤdten eher, als auf dem Lande bey der Einfalt gefunden werden. Virgil iſt in
ſeinen Schaͤfer-Gedichten ſo keuſch, daß er ſeinen Silenus nicht einmahl etwas
anſtoͤßiges ſagen laͤßt; Er verſpricht ſeinen Zuhoͤrern die gern Verße hoͤren wollten,
was vorzuſingen, ſeiner Nymphe Aegle aber, etwas anders zur Belohnung: Car-
mina quae vultis cognoſcite; Carmina vobis; (ſcil. dabo) Huic (ſcil. Aeglae)
aliud mercedis erit.
Wie haͤtte er ſich hier zuͤchtiger ausdruͤcken ſollen?
336 Der Pöbel. Fricti ciceris aut nucis emtor. Man verkaufte in Rom
gekochte Erbſen und gebratene Nuͤſſe oder vielleicht Caſtanien, und dieſe kaufte
wohl auf der Gaſſe nur das gemeinſte Volck. Solche Leute liebten damahls auch
ſchon die unflaͤtigſten Poſſen; aber die Vornehmern hatten einen beſſern Geſchmack.
343 Dreyfach. Der Jambus iſt geſchwinde in der Ausſprache; denn die erſte
Sylbe iſt kurtz, und man faͤllt allſofort mit dem Accente auf die andre lange. Sechs-
fuͤßige Jamben alſo hieſſen dreyfache; weil man gleichſam zwey Jamben zuſammen
nahm und als einen gedoppelten Fuß zehlete. Jm Deutſchen gehen unſre ſechsfache
Jamben ſo geſchwinde nicht von der Zunge, weil unſre Sprache zuviel Conſonan-
tes hat, die bey den kurzen Sylben ſowohl als bey den langen haͤuſig vorkommen.
346 Deſto männlicher. Die Spondeen klingen freylich maͤnnlicher, weil ſie
aus zwo langen Sylben beſtehen, und daher haben die lateiniſchen Poeten gemei-
niglich
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[32/0060] Horatius von der Dicht-Kunſt. Wie ſonſt die Zaͤrtlichkeit der edlen Jugend ſpricht. Auch uͤberhaͤuft den Vers mit ſchnoͤden Fratzen nicht, Schreibt niemahls aͤrgerlich und lernt das Laͤſtern meiden, Den Unflath kan kein Menſch von gutem Stande leiden; Kein zuͤchtiges Gemuͤth, das Ehr und Tugend liebt. Denn ob der Poͤbel euch gleich ſeinen Beyfall giebt, Wird doch ein edler Geiſt euch allezeit verhoͤhnen. Und eure Scheiteln nie mit Lorber-Zweigen kroͤnen. Ein Jambus heiſſt vorlaͤngſt in unſrer Kunſt ein Fuß, Da eine Sylbe kurz die andre lang ſeyn muß. Er flieſſet ſchnell und leicht, daher er ſolchen Zeilen, Darinn er ſechsmahl klappt den Nahmen laͤſſt ertheilen. Daß man ſie dreyfach nennt. Von Anfang hat er ſich Mit andern nicht vermiſcht. Nur neulich aber wich Derſelbe hier und dar den langſamen Spondeen, Um deſto maͤnnlicher damit einherzugehen. Doch ſo gefaͤllig er in dieſem Falle war; So wich er doch nicht gantz. Das zweyt und vierte Paar Der Sylben hat er ſich beſtaͤndig vorbehalten. Man ſpuͤrt ihn auch bereits in mancher Schrifft der Alten. Es 329 336 343 346 329 Staͤdten eher, als auf dem Lande bey der Einfalt gefunden werden. Virgil iſt in ſeinen Schaͤfer-Gedichten ſo keuſch, daß er ſeinen Silenus nicht einmahl etwas anſtoͤßiges ſagen laͤßt; Er verſpricht ſeinen Zuhoͤrern die gern Verße hoͤren wollten, was vorzuſingen, ſeiner Nymphe Aegle aber, etwas anders zur Belohnung: Car- mina quae vultis cognoſcite; Carmina vobis; (ſcil. dabo) Huic (ſcil. Aeglae) aliud mercedis erit. Wie haͤtte er ſich hier zuͤchtiger ausdruͤcken ſollen? 336 Der Pöbel. Fricti ciceris aut nucis emtor. Man verkaufte in Rom gekochte Erbſen und gebratene Nuͤſſe oder vielleicht Caſtanien, und dieſe kaufte wohl auf der Gaſſe nur das gemeinſte Volck. Solche Leute liebten damahls auch ſchon die unflaͤtigſten Poſſen; aber die Vornehmern hatten einen beſſern Geſchmack. 343 Dreyfach. Der Jambus iſt geſchwinde in der Ausſprache; denn die erſte Sylbe iſt kurtz, und man faͤllt allſofort mit dem Accente auf die andre lange. Sechs- fuͤßige Jamben alſo hieſſen dreyfache; weil man gleichſam zwey Jamben zuſammen nahm und als einen gedoppelten Fuß zehlete. Jm Deutſchen gehen unſre ſechsfache Jamben ſo geſchwinde nicht von der Zunge, weil unſre Sprache zuviel Conſonan- tes hat, die bey den kurzen Sylben ſowohl als bey den langen haͤuſig vorkommen. 346 Deſto männlicher. Die Spondeen klingen freylich maͤnnlicher, weil ſie aus zwo langen Sylben beſtehen, und daher haben die lateiniſchen Poeten gemei- niglich

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/60>, abgerufen am 25.11.2024.