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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils X Capitel
der Historie schon bekannt sind, genau bey eben dem Chara-
ctere lassen müsse, den man von ihnen längst gewohnt ist.
Das hat Corneille in seiner Sophonisbe gethan. Er be-
obachtet genau, was Livins von ihrer Gemüthsbeschaffenheit
erzehlet: Den Masinissa und Syphax läst er auch so, wie er
sie fand: unser Lohenstein aber hat alles verkehrt, wie der ge-
lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders
ist es, wenn man gantz neue Personen dichtet. Die kan man
machen wie man selber will, und wie die Fabel es erfordert.
Nur folgende Regel Horatii ist nöthig zu beobachten:

Si quid inexpertum scenae committis, & audes
Personam formare nouam; seruetur ad imum,
Qualis ab incepto processerit, & sibi constet.

Ein wiedersprechender Character ist ein Ungeheuer, so in der
Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei-
tzig; ein Stoltzer stoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter
verzagt seyn und bleiben: Es würde denn in der Fabel durch
besondre Umstände wahrscheinlich gemacht, daß er sich ein we-
nig geändert hätte. Denn eine gäntzliche Aenderung des
Naturels oder Characters ist ohnedem in so kurtzer Zeit un-
möglich.

Nichts ist von Characteren mehr übrig zu sagen, als daß
nur die Hauptpersonen dergleichen haben müssen. Die Be-
dienten derselben, so fast allezeit in fremdem Nahmen han-
deln oder thun, dörfen keine besondre Gemüthsart haben:
zum wenigsten haben sie selten Gelegenheit dieselbe blicken zu
lassen. Doch ist es in solchen Fällen auch unverboten.

Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der
Tragödien. Diese muß eben so beschaffen seyn als die Schreib-
art in Heldengedichten, wenn der Poet daselbst andre redend
einführet. Die Alten nennten diese Art des Ausdruckes Co-
thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen
Standespersonen getragen wurden. Weil nun dergleichen
in der Tragödie vorgestellet wurden, und es sich vor sie nicht
anders schickte, als daß sie sich auf eine edlere Art als der ge-
meine Pöbel ausdrücken musten; zumahl wenn die gewaltig-
sten Affecten sie bestürmeten: So bekam ihre Sprache eben

die-

Des II Theils X Capitel
der Hiſtorie ſchon bekannt ſind, genau bey eben dem Chara-
ctere laſſen muͤſſe, den man von ihnen laͤngſt gewohnt iſt.
Das hat Corneille in ſeiner Sophonisbe gethan. Er be-
obachtet genau, was Livins von ihrer Gemuͤthsbeſchaffenheit
erzehlet: Den Maſiniſſa und Syphax laͤſt er auch ſo, wie er
ſie fand: unſer Lohenſtein aber hat alles verkehrt, wie der ge-
lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders
iſt es, wenn man gantz neue Perſonen dichtet. Die kan man
machen wie man ſelber will, und wie die Fabel es erfordert.
Nur folgende Regel Horatii iſt noͤthig zu beobachten:

Si quid inexpertum ſcenae committis, & audes
Perſonam formare nouam; ſeruetur ad imum,
Qualis ab incepto proceſſerit, & ſibi conſtet.

Ein wiederſprechender Character iſt ein Ungeheuer, ſo in der
Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei-
tzig; ein Stoltzer ſtoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter
verzagt ſeyn und bleiben: Es wuͤrde denn in der Fabel durch
beſondre Umſtaͤnde wahrſcheinlich gemacht, daß er ſich ein we-
nig geaͤndert haͤtte. Denn eine gaͤntzliche Aenderung des
Naturels oder Characters iſt ohnedem in ſo kurtzer Zeit un-
moͤglich.

Nichts iſt von Characteren mehr uͤbrig zu ſagen, als daß
nur die Hauptperſonen dergleichen haben muͤſſen. Die Be-
dienten derſelben, ſo faſt allezeit in fremdem Nahmen han-
deln oder thun, doͤrfen keine beſondre Gemuͤthsart haben:
zum wenigſten haben ſie ſelten Gelegenheit dieſelbe blicken zu
laſſen. Doch iſt es in ſolchen Faͤllen auch unverboten.

Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der
Tragoͤdien. Dieſe muß eben ſo beſchaffen ſeyn als die Schreib-
art in Heldengedichten, wenn der Poet daſelbſt andre redend
einfuͤhret. Die Alten nennten dieſe Art des Ausdruckes Co-
thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen
Standesperſonen getragen wurden. Weil nun dergleichen
in der Tragoͤdie vorgeſtellet wurden, und es ſich vor ſie nicht
anders ſchickte, als daß ſie ſich auf eine edlere Art als der ge-
meine Poͤbel ausdruͤcken muſten; zumahl wenn die gewaltig-
ſten Affecten ſie beſtuͤrmeten: So bekam ihre Sprache eben

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[578/0606] Des II Theils X Capitel der Hiſtorie ſchon bekannt ſind, genau bey eben dem Chara- ctere laſſen muͤſſe, den man von ihnen laͤngſt gewohnt iſt. Das hat Corneille in ſeiner Sophonisbe gethan. Er be- obachtet genau, was Livins von ihrer Gemuͤthsbeſchaffenheit erzehlet: Den Maſiniſſa und Syphax laͤſt er auch ſo, wie er ſie fand: unſer Lohenſtein aber hat alles verkehrt, wie der ge- lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders iſt es, wenn man gantz neue Perſonen dichtet. Die kan man machen wie man ſelber will, und wie die Fabel es erfordert. Nur folgende Regel Horatii iſt noͤthig zu beobachten: Si quid inexpertum ſcenae committis, & audes Perſonam formare nouam; ſeruetur ad imum, Qualis ab incepto proceſſerit, & ſibi conſtet. Ein wiederſprechender Character iſt ein Ungeheuer, ſo in der Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei- tzig; ein Stoltzer ſtoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter verzagt ſeyn und bleiben: Es wuͤrde denn in der Fabel durch beſondre Umſtaͤnde wahrſcheinlich gemacht, daß er ſich ein we- nig geaͤndert haͤtte. Denn eine gaͤntzliche Aenderung des Naturels oder Characters iſt ohnedem in ſo kurtzer Zeit un- moͤglich. Nichts iſt von Characteren mehr uͤbrig zu ſagen, als daß nur die Hauptperſonen dergleichen haben muͤſſen. Die Be- dienten derſelben, ſo faſt allezeit in fremdem Nahmen han- deln oder thun, doͤrfen keine beſondre Gemuͤthsart haben: zum wenigſten haben ſie ſelten Gelegenheit dieſelbe blicken zu laſſen. Doch iſt es in ſolchen Faͤllen auch unverboten. Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der Tragoͤdien. Dieſe muß eben ſo beſchaffen ſeyn als die Schreib- art in Heldengedichten, wenn der Poet daſelbſt andre redend einfuͤhret. Die Alten nennten dieſe Art des Ausdruckes Co- thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen Standesperſonen getragen wurden. Weil nun dergleichen in der Tragoͤdie vorgeſtellet wurden, und es ſich vor ſie nicht anders ſchickte, als daß ſie ſich auf eine edlere Art als der ge- meine Poͤbel ausdruͤcken muſten; zumahl wenn die gewaltig- ſten Affecten ſie beſtuͤrmeten: So bekam ihre Sprache eben die-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/606>, abgerufen am 23.11.2024.