Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils XI Capitel dem Gelimatias sehr nahe; worinne ihm also Terentius weitvorzuziehen ist. Hernach treibt er seine Charactere zuweilen sehr hoch, so, daß sie endlich unnatürlich werden. Z. E. er läst seinen Geitzhals so argwöhnisch werden, daß er einem Bedien- ten, der aus der Stube geht, nicht allein die Taschen und beyde Hände besucht; sondern auch fordert, daß er ihm die dritte Hand zeigen solle: gerade als ob jemals ein Mensch so närrisch seyn könnte, zu glauben, daß jemand drey Hände habe. Er hat dieses aus dem Plautus gelernt, der auch einmahl sagt: Cedo tertiam! Allein das entschuldigt seinen Fehler nicht. Noch mehr ist er deßwegen zu tadeln, daß er offt das Laster gar zu angenehm, die Tugend aber gar zu störrisch, unartig und lächerlich gemacht hat. Die Galanterie junger Leute hat immer den Vorzug vor der sorgfältigen Aufsicht der guten Eltern; die vor ihrer Kinder Tugend besorget sind: dahergegen jene entweder schon lasterhafft ist; oder es doch leicht werden kan. Er spottet der betrogenen Männer offt ohn alle ihr Verschulden. Denn was kan doch in Franckreich ein guter rechtschaffener Ehegatte davor, daß sein Weib aus- schweifet: wo es eine galante Mode ist, die Ehe zu brechen, und neben einem Manne noch ein halb Dutzend Anbeter zu haben. Endlich hat sich Moliere gar zu tief herunter gelas- sen, wenn er die Jtalienischen Narrenpossen nachzuahmen, die Betrügereyen Scapins aufgeführet hat. Boileau selbst hat ihm dieses nicht vergeben können; ob er gleich sonst sein guter Freund war: indem er schreibt: Dans ce sac ridicule ou Scapin s' enveloppe, Bey uns Deutschen hat es vor und nach Opitzen an Comö- HErrn
Des II Theils XI Capitel dem Gelimatias ſehr nahe; worinne ihm alſo Terentius weitvorzuziehen iſt. Hernach treibt er ſeine Charactere zuweilen ſehr hoch, ſo, daß ſie endlich unnatuͤrlich werden. Z. E. er laͤſt ſeinen Geitzhals ſo argwoͤhniſch werden, daß er einem Bedien- ten, der aus der Stube geht, nicht allein die Taſchen und beyde Haͤnde beſucht; ſondern auch fordert, daß er ihm die dritte Hand zeigen ſolle: gerade als ob jemals ein Menſch ſo naͤrriſch ſeyn koͤnnte, zu glauben, daß jemand drey Haͤnde habe. Er hat dieſes aus dem Plautus gelernt, der auch einmahl ſagt: Cedo tertiam! Allein das entſchuldigt ſeinen Fehler nicht. Noch mehr iſt er deßwegen zu tadeln, daß er offt das Laſter gar zu angenehm, die Tugend aber gar zu ſtoͤrriſch, unartig und laͤcherlich gemacht hat. Die Galanterie junger Leute hat immer den Vorzug vor der ſorgfaͤltigen Aufſicht der guten Eltern; die vor ihrer Kinder Tugend beſorget ſind: dahergegen jene entweder ſchon laſterhafft iſt; oder es doch leicht werden kan. Er ſpottet der betrogenen Maͤnner offt ohn alle ihr Verſchulden. Denn was kan doch in Franckreich ein guter rechtſchaffener Ehegatte davor, daß ſein Weib aus- ſchweifet: wo es eine galante Mode iſt, die Ehe zu brechen, und neben einem Manne noch ein halb Dutzend Anbeter zu haben. Endlich hat ſich Moliere gar zu tief herunter gelaſ- ſen, wenn er die Jtalieniſchen Narrenpoſſen nachzuahmen, die Betruͤgereyen Scapins aufgefuͤhret hat. Boileau ſelbſt hat ihm dieſes nicht vergeben koͤnnen; ob er gleich ſonſt ſein guter Freund war: indem er ſchreibt: Dans ce ſac ridicule où Scapin s’ enveloppe, Bey uns Deutſchen hat es vor und nach Opitzen an Comoͤ- HErrn
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Des II Theils XI Capitel
dem Gelimatias ſehr nahe; worinne ihm alſo Terentius weit
vorzuziehen iſt. Hernach treibt er ſeine Charactere zuweilen
ſehr hoch, ſo, daß ſie endlich unnatuͤrlich werden. Z. E. er laͤſt
ſeinen Geitzhals ſo argwoͤhniſch werden, daß er einem Bedien-
ten, der aus der Stube geht, nicht allein die Taſchen und beyde
Haͤnde beſucht; ſondern auch fordert, daß er ihm die dritte
Hand zeigen ſolle: gerade als ob jemals ein Menſch ſo naͤrriſch
ſeyn koͤnnte, zu glauben, daß jemand drey Haͤnde habe. Er
hat dieſes aus dem Plautus gelernt, der auch einmahl
ſagt: Cedo tertiam! Allein das entſchuldigt ſeinen Fehler
nicht. Noch mehr iſt er deßwegen zu tadeln, daß er offt das
Laſter gar zu angenehm, die Tugend aber gar zu ſtoͤrriſch,
unartig und laͤcherlich gemacht hat. Die Galanterie junger
Leute hat immer den Vorzug vor der ſorgfaͤltigen Aufſicht der
guten Eltern; die vor ihrer Kinder Tugend beſorget ſind:
dahergegen jene entweder ſchon laſterhafft iſt; oder es doch
leicht werden kan. Er ſpottet der betrogenen Maͤnner offt
ohn alle ihr Verſchulden. Denn was kan doch in Franckreich
ein guter rechtſchaffener Ehegatte davor, daß ſein Weib aus-
ſchweifet: wo es eine galante Mode iſt, die Ehe zu brechen,
und neben einem Manne noch ein halb Dutzend Anbeter zu
haben. Endlich hat ſich Moliere gar zu tief herunter gelaſ-
ſen, wenn er die Jtalieniſchen Narrenpoſſen nachzuahmen,
die Betruͤgereyen Scapins aufgefuͤhret hat. Boileau ſelbſt
hat ihm dieſes nicht vergeben koͤnnen; ob er gleich ſonſt ſein
guter Freund war: indem er ſchreibt:
Dans ce ſac ridicule où Scapin s’ enveloppe,
Je ne reconnois plus l’Auteur du Miſantrope.
Art. Poet. Chant. 3.
Bey uns Deutſchen hat es vor und nach Opitzen an Comoͤ-
dienſchreibern zwar niemahls gefehlt; aber nichts deſtoweni-
ger haben wir nichts rechtes aufzuweiſen, ſo unſrer Nation
Ehre machen koͤnnte. Wir haben wohl gantze Fuder Co-
moͤdien, die in Hans Sachſens Geſchmacke geſchrieben,
und faſt alle aus der Bibel genommen ſind. Aber ſie ſind
auch mehrentheils ſo kuͤnſtlich, wie dieſes Nuͤrnbergiſchen
Meiſterſaͤngers ſeine Wercke: der wohl gar GOtt den
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