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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Comödien oder Lustspielen.
Nebenbuhler selbst zu seiner Frauen vors Bette führet, ihn
nackt auszieht, hinein legt, und in der Kammer verschließt:
Alles in der Absicht, daß selbiger das Gifft von seiner Ehegat-
tin an sich ziehen möge, so eine Wirckung der Artzeney bey ihr
seyn sollte, die man derselben der Unfruchtbarkeit halber ein-
gegeben hatte; da doch die Schuld vielmehr an ihm selbst
liegen mochte. Allein, was fliest denn aus dieser lächerlichen
Handlung vor eine Lehre? Keine andre, als daß man keinen
Galan zu seiner Frauen führen solle. Jch untersuche
hier nicht einmahl die Wahrscheinlichkeit der Fabel: die
zwar auf der Schau-Bühne gut genug ausgekünstelt ist;
aber gewiß im gemeinen Leben unmöglich angehen würde.
Will man etliche Molierische Comödien auf die Art unter-
suchen, so wird man eben diesen Fehler auch bey demselben
antreffen.

Zu einer comischen Handlung nun, kan man eben so we-
nig, als zur tragischen, einen gantzen Character eines Men-
schen nehmen, der sich in unzehlichen Thaten äussert; als z. E.
einen Cartousche mit seinen Spitzbübereyen. Es muß eine
eintzige recht wichtige Spitzbüberey genommen werden, da-
zu viele Anstalten gehören, ehe sie ausgeführet werden kan:
und die vieler Schwierigkeiten ungeachtet gelinget; und al-
so eine Haupt-Handlung ausmacht. Diesen Erfolg dersel-
ben lächerlich zu machen, dazu gehört, daß entweder Cartou-
sche, oder der, so von ihm betrogen wird, auslachens würdig
werde. Dieses letztere zu versuchen, müste man dichten, es
hätte sich jemand in Paris so klug düncken lassen; daß ihn
Cartousche mit aller seiner List nicht sollte betrügen können.
Dieses hätte er sich in einer Gesellschafft gerühmet, wo dieser
Räuber selbst unerkannt, zugegen gewesen; und dadurch
demselben Lust gemacht, seine Kunst an ihm zu beweisen.
Man könnte nun einen von den listigsten Streichen dieses
Spitzbuben wehlen, und den so überklugen Mann, zum Uber-
flusse gar durch gewisse Leute warnen lassen, wohl auf seiner
Hut zu stehen; Endlich aber doch betrogen werden lassen.
Hier würde nun freylich wohl die Comödie ein lustiges Ende
nehmen: aber nicht die Spitzbüberey; sondern die eingebil-

dete
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Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.
Nebenbuhler ſelbſt zu ſeiner Frauen vors Bette fuͤhret, ihn
nackt auszieht, hinein legt, und in der Kammer verſchließt:
Alles in der Abſicht, daß ſelbiger das Gifft von ſeiner Ehegat-
tin an ſich ziehen moͤge, ſo eine Wirckung der Artzeney bey ihr
ſeyn ſollte, die man derſelben der Unfruchtbarkeit halber ein-
gegeben hatte; da doch die Schuld vielmehr an ihm ſelbſt
liegen mochte. Allein, was flieſt denn aus dieſer laͤcherlichen
Handlung vor eine Lehre? Keine andre, als daß man keinen
Galan zu ſeiner Frauen fuͤhren ſolle. Jch unterſuche
hier nicht einmahl die Wahrſcheinlichkeit der Fabel: die
zwar auf der Schau-Buͤhne gut genug ausgekuͤnſtelt iſt;
aber gewiß im gemeinen Leben unmoͤglich angehen wuͤrde.
Will man etliche Molieriſche Comoͤdien auf die Art unter-
ſuchen, ſo wird man eben dieſen Fehler auch bey demſelben
antreffen.

Zu einer comiſchen Handlung nun, kan man eben ſo we-
nig, als zur tragiſchen, einen gantzen Character eines Men-
ſchen nehmen, der ſich in unzehlichen Thaten aͤuſſert; als z. E.
einen Cartouſche mit ſeinen Spitzbuͤbereyen. Es muß eine
eintzige recht wichtige Spitzbuͤberey genommen werden, da-
zu viele Anſtalten gehoͤren, ehe ſie ausgefuͤhret werden kan:
und die vieler Schwierigkeiten ungeachtet gelinget; und al-
ſo eine Haupt-Handlung ausmacht. Dieſen Erfolg derſel-
ben laͤcherlich zu machen, dazu gehoͤrt, daß entweder Cartou-
ſche, oder der, ſo von ihm betrogen wird, auslachens wuͤrdig
werde. Dieſes letztere zu verſuchen, muͤſte man dichten, es
haͤtte ſich jemand in Paris ſo klug duͤncken laſſen; daß ihn
Cartouſche mit aller ſeiner Liſt nicht ſollte betruͤgen koͤnnen.
Dieſes haͤtte er ſich in einer Geſellſchafft geruͤhmet, wo dieſer
Raͤuber ſelbſt unerkannt, zugegen geweſen; und dadurch
demſelben Luſt gemacht, ſeine Kunſt an ihm zu beweiſen.
Man koͤnnte nun einen von den liſtigſten Streichen dieſes
Spitzbuben wehlen, und den ſo uͤberklugen Mann, zum Uber-
fluſſe gar durch gewiſſe Leute warnen laſſen, wohl auf ſeiner
Hut zu ſtehen; Endlich aber doch betrogen werden laſſen.
Hier wuͤrde nun freylich wohl die Comoͤdie ein luſtiges Ende
nehmen: aber nicht die Spitzbuͤberey; ſondern die eingebil-

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[595/0623] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. Nebenbuhler ſelbſt zu ſeiner Frauen vors Bette fuͤhret, ihn nackt auszieht, hinein legt, und in der Kammer verſchließt: Alles in der Abſicht, daß ſelbiger das Gifft von ſeiner Ehegat- tin an ſich ziehen moͤge, ſo eine Wirckung der Artzeney bey ihr ſeyn ſollte, die man derſelben der Unfruchtbarkeit halber ein- gegeben hatte; da doch die Schuld vielmehr an ihm ſelbſt liegen mochte. Allein, was flieſt denn aus dieſer laͤcherlichen Handlung vor eine Lehre? Keine andre, als daß man keinen Galan zu ſeiner Frauen fuͤhren ſolle. Jch unterſuche hier nicht einmahl die Wahrſcheinlichkeit der Fabel: die zwar auf der Schau-Buͤhne gut genug ausgekuͤnſtelt iſt; aber gewiß im gemeinen Leben unmoͤglich angehen wuͤrde. Will man etliche Molieriſche Comoͤdien auf die Art unter- ſuchen, ſo wird man eben dieſen Fehler auch bey demſelben antreffen. Zu einer comiſchen Handlung nun, kan man eben ſo we- nig, als zur tragiſchen, einen gantzen Character eines Men- ſchen nehmen, der ſich in unzehlichen Thaten aͤuſſert; als z. E. einen Cartouſche mit ſeinen Spitzbuͤbereyen. Es muß eine eintzige recht wichtige Spitzbuͤberey genommen werden, da- zu viele Anſtalten gehoͤren, ehe ſie ausgefuͤhret werden kan: und die vieler Schwierigkeiten ungeachtet gelinget; und al- ſo eine Haupt-Handlung ausmacht. Dieſen Erfolg derſel- ben laͤcherlich zu machen, dazu gehoͤrt, daß entweder Cartou- ſche, oder der, ſo von ihm betrogen wird, auslachens wuͤrdig werde. Dieſes letztere zu verſuchen, muͤſte man dichten, es haͤtte ſich jemand in Paris ſo klug duͤncken laſſen; daß ihn Cartouſche mit aller ſeiner Liſt nicht ſollte betruͤgen koͤnnen. Dieſes haͤtte er ſich in einer Geſellſchafft geruͤhmet, wo dieſer Raͤuber ſelbſt unerkannt, zugegen geweſen; und dadurch demſelben Luſt gemacht, ſeine Kunſt an ihm zu beweiſen. Man koͤnnte nun einen von den liſtigſten Streichen dieſes Spitzbuben wehlen, und den ſo uͤberklugen Mann, zum Uber- fluſſe gar durch gewiſſe Leute warnen laſſen, wohl auf ſeiner Hut zu ſtehen; Endlich aber doch betrogen werden laſſen. Hier wuͤrde nun freylich wohl die Comoͤdie ein luſtiges Ende nehmen: aber nicht die Spitzbuͤberey; ſondern die eingebil- dete P p 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/623>, abgerufen am 23.11.2024.