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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Allein die Freyheit wuchs in dem verwegnen Singen,
390Und ließ sich endlich kaum durch die Gesetze zwingen.

Die Frechheit gieng zu weit, man schrieb ihr Regeln vor:
Drauf ließ die Schmähsucht nach; so ward zuletzt das Chor
Mit seiner Bosheit stumm, und schonte zarter Ohren,
So bald es Fug und Recht zur Lästerung verlohren.

395
Wir Römer haben auch nicht wenig Lob erjagt,
Seit unsre Dichter sich an alles das gewagt,
Die sich zugleich erkühnt von jenen abzuweichen,
Und unsrer Helden Ruhm in Fabeln zu erreichen.
Jst nicht bey uns sowohl der stille Bürger-Stand
400Als Edler Fürsten Muth auf Bühnen schon bekannt?

Und wircklich würde Rom durch Tugend und durch Waffen,
Sich keinen grössern Preis als durch die Sprache schaffen,
389
392 393
399 400
Wenn
389 Die Frechheit. Zu der Zeit, da Cratinus, Epicharmus, Crates, Eu-
polis und Aristophanes lebten, welche alle Comödien schrieben, nahm man sich in
Athen die Freyheit, die vornehmsten Leute auf den Schaubühnen nahmentlich
aufzuführen und lächerlich zu machen. Sie spielten keine Fabeln, sondern lauter
wahre Historien. Sie mahlten gar die Larven so künstlich, daß sie denen ähnlich
sahen, die sie vorstellen wollten. Aber als Lysander sich der Republick bemächtigte,
hatte diese Lust des Volcks ein Ende. Denn so lange das Volck in Athen regierte,
sahe es der Pöbel gern, daß die Grossen wacker von den Poeten herumgenommen
wurden. Das war nun die mittlere Comödie, die bis zu Alexanders Zeiten gedauret.
392 393 Der Chor etc. stumm. Der Chor war in der mittlern Comödie noch
eben sowohl als in der Tragödie beybehalten, und absonderlich angewandt worden,
die Grossen der Stadt und ihr übles Regiment durchzuziehen. So bald dieses den
Poeten untersaget ward, hörten sie gantz und gar auf in den Comödien Lieder sin-
gen zu lassen, und huben an statt wahrer Historien an Fabeln aufzuführen. Da
entstund nun die neue Comödie, die seit der Zeit noch immer beybehalten worden.
Nur zwischen den Handlungen wurde von den Pfeifern was lustiges geblasen.
399 400 Sowohl der etc. als etc. Die Römischen Poeten Pacuvius, Accius,
Afranius, Titinius und Q. Atta hatten allerley Schauspiele gemacht. Sie be-
stunden theils aus vornehmen Obrigkeitlichen Personen, und hiessen Fabulae prae-
textatae,
von den mit Purpur eingefaßten Kleidern so sie trugen. Theils aber
waren nur togatae, schlecht weg, weil nur gemeine Bürger darinn aufgeführet
wurden; und die hiessen auch Tabernariae. Jene kamen den Tragödien bey, diese
aber waren Comödien. Der Poet braucht dabey das Wort docuere: denn so re-
deten die Alten, eine Tragödie lehren, eine Comödie lehren. Dieses zeigt wie nutz-
bar die Poesien damahls gewesen, und daß man sie mehr zum Unterrichte als zur
Lust bestimmet habe. Daher wurden die Poeten, die Schauspiele machten, Didaska-
loi, Lehrmeister genennet: weil sie die einzigen öffentlichen Lehrer des Volcks wa-
en, da ihre Poetische Stücke die Stelle unsrer Predigten bey den Heyden vertraten.

Horatius von der Dicht-Kunſt.

Allein die Freyheit wuchs in dem verwegnen Singen,
390Und ließ ſich endlich kaum durch die Geſetze zwingen.

Die Frechheit gieng zu weit, man ſchrieb ihr Regeln vor:
Drauf ließ die Schmaͤhſucht nach; ſo ward zuletzt das Chor
Mit ſeiner Bosheit ſtumm, und ſchonte zarter Ohren,
So bald es Fug und Recht zur Laͤſterung verlohren.

395
Wir Roͤmer haben auch nicht wenig Lob erjagt,
Seit unſre Dichter ſich an alles das gewagt,
Die ſich zugleich erkuͤhnt von jenen abzuweichen,
Und unſrer Helden Ruhm in Fabeln zu erreichen.
Jſt nicht bey uns ſowohl der ſtille Buͤrger-Stand
400Als Edler Fuͤrſten Muth auf Buͤhnen ſchon bekannt?

Und wircklich wuͤrde Rom durch Tugend und durch Waffen,
Sich keinen groͤſſern Preis als durch die Sprache ſchaffen,
389
392 393
399 400
Wenn
389 Die Frechheit. Zu der Zeit, da Cratinus, Epicharmus, Crates, Eu-
polis und Ariſtophanes lebten, welche alle Comoͤdien ſchrieben, nahm man ſich in
Athen die Freyheit, die vornehmſten Leute auf den Schaubuͤhnen nahmentlich
aufzufuͤhren und laͤcherlich zu machen. Sie ſpielten keine Fabeln, ſondern lauter
wahre Hiſtorien. Sie mahlten gar die Larven ſo kuͤnſtlich, daß ſie denen aͤhnlich
ſahen, die ſie vorſtellen wollten. Aber als Lyſander ſich der Republick bemaͤchtigte,
hatte dieſe Luſt des Volcks ein Ende. Denn ſo lange das Volck in Athen regierte,
ſahe es der Poͤbel gern, daß die Groſſen wacker von den Poeten herumgenommen
wurden. Das war nun die mittlere Comoͤdie, die bis zu Alexanders Zeiten gedauret.
392 393 Der Chor ꝛc. ſtumm. Der Chor war in der mittlern Comoͤdie noch
eben ſowohl als in der Tragoͤdie beybehalten, und abſonderlich angewandt worden,
die Groſſen der Stadt und ihr uͤbles Regiment durchzuziehen. So bald dieſes den
Poeten unterſaget ward, hoͤrten ſie gantz und gar auf in den Comoͤdien Lieder ſin-
gen zu laſſen, und huben an ſtatt wahrer Hiſtorien an Fabeln aufzufuͤhren. Da
entſtund nun die neue Comoͤdie, die ſeit der Zeit noch immer beybehalten worden.
Nur zwiſchen den Handlungen wurde von den Pfeifern was luſtiges geblaſen.
399 400 Sowohl der ꝛc. als ꝛc. Die Roͤmiſchen Poeten Pacuvius, Accius,
Afranius, Titinius und Q. Atta hatten allerley Schauſpiele gemacht. Sie be-
ſtunden theils aus vornehmen Obrigkeitlichen Perſonen, und hieſſen Fabulae prae-
textatae,
von den mit Purpur eingefaßten Kleidern ſo ſie trugen. Theils aber
waren nur togatae, ſchlecht weg, weil nur gemeine Buͤrger darinn aufgefuͤhret
wurden; und die hieſſen auch Tabernariae. Jene kamen den Tragoͤdien bey, dieſe
aber waren Comoͤdien. Der Poet braucht dabey das Wort docuere: denn ſo re-
deten die Alten, eine Tragoͤdie lehren, eine Comoͤdie lehren. Dieſes zeigt wie nutz-
bar die Poeſien damahls geweſen, und daß man ſie mehr zum Unterrichte als zur
Luſt beſtimmet habe. Daher wurden die Poeten, die Schauſpiele machten, Διδασκα-
λοι, Lehrmeiſter genennet: weil ſie die einzigen oͤffentlichen Lehrer des Volcks wa-
en, da ihre Poetiſche Stuͤcke die Stelle unſrer Predigten bey den Heyden vertraten.
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[36/0064] Horatius von der Dicht-Kunſt. Allein die Freyheit wuchs in dem verwegnen Singen, Und ließ ſich endlich kaum durch die Geſetze zwingen. Die Frechheit gieng zu weit, man ſchrieb ihr Regeln vor: Drauf ließ die Schmaͤhſucht nach; ſo ward zuletzt das Chor Mit ſeiner Bosheit ſtumm, und ſchonte zarter Ohren, So bald es Fug und Recht zur Laͤſterung verlohren. Wir Roͤmer haben auch nicht wenig Lob erjagt, Seit unſre Dichter ſich an alles das gewagt, Die ſich zugleich erkuͤhnt von jenen abzuweichen, Und unſrer Helden Ruhm in Fabeln zu erreichen. Jſt nicht bey uns ſowohl der ſtille Buͤrger-Stand Als Edler Fuͤrſten Muth auf Buͤhnen ſchon bekannt? Und wircklich wuͤrde Rom durch Tugend und durch Waffen, Sich keinen groͤſſern Preis als durch die Sprache ſchaffen, Wenn 389 392 393 399 400 389 Die Frechheit. Zu der Zeit, da Cratinus, Epicharmus, Crates, Eu- polis und Ariſtophanes lebten, welche alle Comoͤdien ſchrieben, nahm man ſich in Athen die Freyheit, die vornehmſten Leute auf den Schaubuͤhnen nahmentlich aufzufuͤhren und laͤcherlich zu machen. Sie ſpielten keine Fabeln, ſondern lauter wahre Hiſtorien. Sie mahlten gar die Larven ſo kuͤnſtlich, daß ſie denen aͤhnlich ſahen, die ſie vorſtellen wollten. Aber als Lyſander ſich der Republick bemaͤchtigte, hatte dieſe Luſt des Volcks ein Ende. Denn ſo lange das Volck in Athen regierte, ſahe es der Poͤbel gern, daß die Groſſen wacker von den Poeten herumgenommen wurden. Das war nun die mittlere Comoͤdie, die bis zu Alexanders Zeiten gedauret. 392 393 Der Chor ꝛc. ſtumm. Der Chor war in der mittlern Comoͤdie noch eben ſowohl als in der Tragoͤdie beybehalten, und abſonderlich angewandt worden, die Groſſen der Stadt und ihr uͤbles Regiment durchzuziehen. So bald dieſes den Poeten unterſaget ward, hoͤrten ſie gantz und gar auf in den Comoͤdien Lieder ſin- gen zu laſſen, und huben an ſtatt wahrer Hiſtorien an Fabeln aufzufuͤhren. Da entſtund nun die neue Comoͤdie, die ſeit der Zeit noch immer beybehalten worden. Nur zwiſchen den Handlungen wurde von den Pfeifern was luſtiges geblaſen. 399 400 Sowohl der ꝛc. als ꝛc. Die Roͤmiſchen Poeten Pacuvius, Accius, Afranius, Titinius und Q. Atta hatten allerley Schauſpiele gemacht. Sie be- ſtunden theils aus vornehmen Obrigkeitlichen Perſonen, und hieſſen Fabulae prae- textatae, von den mit Purpur eingefaßten Kleidern ſo ſie trugen. Theils aber waren nur togatae, ſchlecht weg, weil nur gemeine Buͤrger darinn aufgefuͤhret wurden; und die hieſſen auch Tabernariae. Jene kamen den Tragoͤdien bey, dieſe aber waren Comoͤdien. Der Poet braucht dabey das Wort docuere: denn ſo re- deten die Alten, eine Tragoͤdie lehren, eine Comoͤdie lehren. Dieſes zeigt wie nutz- bar die Poeſien damahls geweſen, und daß man ſie mehr zum Unterrichte als zur Luſt beſtimmet habe. Daher wurden die Poeten, die Schauſpiele machten, Διδασκα- λοι, Lehrmeiſter genennet: weil ſie die einzigen oͤffentlichen Lehrer des Volcks wa- en, da ihre Poetiſche Stuͤcke die Stelle unſrer Predigten bey den Heyden vertraten.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/64>, abgerufen am 25.11.2024.