Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Horatius von der Dicht-Kunst.

Lebt schmutzig, und verhofft; ein solch verkehrtes Leben
Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben.
Drum trägt sein wüster Kopf, dem Niesewurtz so gar
420Das Hirn nicht saubern kan, ein unverschnittnes Haar.

Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Frühlings-Zeiten,
Durch manche Cur gesucht die Galle weg zu leiten?
O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre Wesen stehn!
So würde mich kein Mensch im dichten übergehn.
425Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten

Hinfort ein Sporn zu seyn, ein Wetzstein ihrer Flöten.
Wie dieser Eisen schärft, und selbst nicht schneiden kan:
So schreib ich selber nichts, doch zeig ich lehrend an,
Woher der Reichthum kommt, der sich in Versen findet,
430Was einen Dichter zeugt, ernähret, stärcket, gründet,

Was wohl und übel steht, wie Geist und Tugend führt,
Und wie der Unverstand in Jrrthum sich verliert.
Vernunft und Klugheit sind die Quellen schöner Lieder,
Durchblättert nur mit Fleiß die Bücher hin und wieder,
435Darinn des Socrates berühmte Weißheit steht:
424
425
433
435

So
424 So würde mich etc. Wenn er sich nehmlich die Galle nicht abführen
möchte, so könnte er endlich auch so rasend davon werden, als die andern Poeten
waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es ist eine Jronie.
425 Jch trachte etc. Jsocrates hat dieses zuerst gesagt, als man ihn fragte,
wie er doch andre so beredt machen könnte, da er selbst keine Reden hielte? Horatz
sagt aber er schreibe nichts: nehmlich keine grossen Helden-Gedichte, Tragödien
und Comödien, denn das sind eigentlich Gedichte; und daher gab er sich vor keinen
Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller
Possen ein Poet zu werden. Es gehört mehr dazu.
433 Vernunft und Klugheit. Dieses setzt er denen entgegen, die da meynten
die Raserey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine gesunde
Vernunft legt den Grund zur wahren Poesie.
435 Des Socrates etc. Die Socratischen, das ist philosophischen und sonder-
lich moralischen Bücher soll ein künftiger Poet fleißig lesen. Socrates selbst hat
zwar nichts geschrieben, aber seine Schüler desto mehr. Ein Poet soll also die Welt-
weisheit und sonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne sie kan er kei-
nen einzigen Character recht machen.

Horatius von der Dicht-Kunſt.

Lebt ſchmutzig, und verhofft; ein ſolch verkehrtes Leben
Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben.
Drum traͤgt ſein wuͤſter Kopf, dem Nieſewurtz ſo gar
420Das Hirn nicht ſaubern kan, ein unverſchnittnes Haar.

Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Fruͤhlings-Zeiten,
Durch manche Cur geſucht die Galle weg zu leiten?
O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre Weſen ſtehn!
So wuͤrde mich kein Menſch im dichten uͤbergehn.
425Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten

Hinfort ein Sporn zu ſeyn, ein Wetzſtein ihrer Floͤten.
Wie dieſer Eiſen ſchaͤrft, und ſelbſt nicht ſchneiden kan:
So ſchreib ich ſelber nichts, doch zeig ich lehrend an,
Woher der Reichthum kommt, der ſich in Verſen findet,
430Was einen Dichter zeugt, ernaͤhret, ſtaͤrcket, gruͤndet,

Was wohl und uͤbel ſteht, wie Geiſt und Tugend fuͤhrt,
Und wie der Unverſtand in Jrrthum ſich verliert.
Vernunft und Klugheit ſind die Quellen ſchoͤner Lieder,
Durchblaͤttert nur mit Fleiß die Buͤcher hin und wieder,
435Darinn des Socrates beruͤhmte Weißheit ſteht:
424
425
433
435

So
424 So würde mich ꝛc. Wenn er ſich nehmlich die Galle nicht abfuͤhren
moͤchte, ſo koͤnnte er endlich auch ſo raſend davon werden, als die andern Poeten
waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es iſt eine Jronie.
425 Jch trachte ꝛc. Jſocrates hat dieſes zuerſt geſagt, als man ihn fragte,
wie er doch andre ſo beredt machen koͤnnte, da er ſelbſt keine Reden hielte? Horatz
ſagt aber er ſchreibe nichts: nehmlich keine groſſen Helden-Gedichte, Tragoͤdien
und Comoͤdien, denn das ſind eigentlich Gedichte; und daher gab er ſich vor keinen
Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller
Poſſen ein Poet zu werden. Es gehoͤrt mehr dazu.
433 Vernunft und Klugheit. Dieſes ſetzt er denen entgegen, die da meynten
die Raſerey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine geſunde
Vernunft legt den Grund zur wahren Poeſie.
435 Des Socrates ꝛc. Die Socratiſchen, das iſt philoſophiſchen und ſonder-
lich moraliſchen Buͤcher ſoll ein kuͤnftiger Poet fleißig leſen. Socrates ſelbſt hat
zwar nichts geſchrieben, aber ſeine Schuͤler deſto mehr. Ein Poet ſoll alſo die Welt-
weisheit und ſonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne ſie kan er kei-
nen einzigen Character recht machen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="18">
              <l>
                <pb facs="#f0066" n="38"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kun&#x017F;t.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Lebt &#x017F;chmutzig, und verhofft; ein &#x017F;olch verkehrtes Leben</l><lb/>
              <l>Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben.</l><lb/>
              <l>Drum tra&#x0364;gt &#x017F;ein wu&#x0364;&#x017F;ter Kopf, dem Nie&#x017F;ewurtz &#x017F;o gar<lb/><note place="left">420</note>Das Hirn nicht &#x017F;aubern kan, ein unver&#x017F;chnittnes Haar.</l><lb/>
              <l>Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Fru&#x0364;hlings-Zeiten,</l><lb/>
              <l>Durch manche Cur ge&#x017F;ucht die Galle weg zu leiten?</l><lb/>
              <l>O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre We&#x017F;en &#x017F;tehn!</l><lb/>
              <l>So wu&#x0364;rde mich kein Men&#x017F;ch im dichten u&#x0364;bergehn.<lb/><note place="left">425</note>Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten</l><lb/>
              <l>Hinfort ein Sporn zu &#x017F;eyn, ein Wetz&#x017F;tein ihrer Flo&#x0364;ten.</l><lb/>
              <l>Wie die&#x017F;er Ei&#x017F;en &#x017F;cha&#x0364;rft, und &#x017F;elb&#x017F;t nicht &#x017F;chneiden kan:</l><lb/>
              <l>So &#x017F;chreib ich &#x017F;elber nichts, doch zeig ich lehrend an,</l><lb/>
              <l>Woher der Reichthum kommt, der &#x017F;ich in Ver&#x017F;en findet,<lb/><note place="left">430</note>Was einen Dichter zeugt, erna&#x0364;hret, &#x017F;ta&#x0364;rcket, gru&#x0364;ndet,</l><lb/>
              <l>Was wohl und u&#x0364;bel &#x017F;teht, wie Gei&#x017F;t und Tugend fu&#x0364;hrt,</l><lb/>
              <l>Und wie der Unver&#x017F;tand in Jrrthum &#x017F;ich verliert.</l><lb/>
              <l>Vernunft und Klugheit &#x017F;ind die Quellen &#x017F;cho&#x0364;ner Lieder,</l><lb/>
              <l>Durchbla&#x0364;ttert nur mit Fleiß die Bu&#x0364;cher hin und wieder,<lb/><note place="left">435</note>Darinn des Socrates beru&#x0364;hmte Weißheit &#x017F;teht:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/><note place="foot" n="424"><hi rendition="#fr">So würde mich &#xA75B;c.</hi> Wenn er &#x017F;ich nehmlich die Galle nicht abfu&#x0364;hren<lb/>
mo&#x0364;chte, &#x017F;o ko&#x0364;nnte er endlich auch &#x017F;o ra&#x017F;end davon werden, als die andern Poeten<lb/>
waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es i&#x017F;t eine Jronie.</note><lb/><note place="foot" n="425"><hi rendition="#fr">Jch trachte &#xA75B;c.</hi> J&#x017F;ocrates hat die&#x017F;es zuer&#x017F;t ge&#x017F;agt, als man ihn fragte,<lb/>
wie er doch andre &#x017F;o beredt machen ko&#x0364;nnte, da er &#x017F;elb&#x017F;t keine Reden hielte? Horatz<lb/>
&#x017F;agt aber er &#x017F;chreibe nichts: nehmlich keine gro&#x017F;&#x017F;en Helden-Gedichte, Trago&#x0364;dien<lb/>
und Como&#x0364;dien, denn das &#x017F;ind eigentlich Gedichte; und daher gab er &#x017F;ich vor keinen<lb/>
Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller<lb/>
Po&#x017F;&#x017F;en ein Poet zu werden. Es geho&#x0364;rt mehr dazu.</note><lb/><note place="foot" n="433"><hi rendition="#fr">Vernunft und Klugheit.</hi> Die&#x017F;es &#x017F;etzt er denen entgegen, die da meynten<lb/>
die Ra&#x017F;erey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine ge&#x017F;unde<lb/>
Vernunft legt den Grund zur wahren Poe&#x017F;ie.</note><lb/><note place="foot" n="435"><hi rendition="#fr">Des Socrates &#xA75B;c.</hi> Die Socrati&#x017F;chen, das i&#x017F;t philo&#x017F;ophi&#x017F;chen und &#x017F;onder-<lb/>
lich morali&#x017F;chen Bu&#x0364;cher &#x017F;oll ein ku&#x0364;nftiger Poet fleißig le&#x017F;en. Socrates &#x017F;elb&#x017F;t hat<lb/>
zwar nichts ge&#x017F;chrieben, aber &#x017F;eine Schu&#x0364;ler de&#x017F;to mehr. Ein Poet &#x017F;oll al&#x017F;o die Welt-<lb/>
weisheit und &#x017F;onderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne &#x017F;ie kan er kei-<lb/>
nen einzigen Character recht machen.</note><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0066] Horatius von der Dicht-Kunſt. Lebt ſchmutzig, und verhofft; ein ſolch verkehrtes Leben Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben. Drum traͤgt ſein wuͤſter Kopf, dem Nieſewurtz ſo gar Das Hirn nicht ſaubern kan, ein unverſchnittnes Haar. Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Fruͤhlings-Zeiten, Durch manche Cur geſucht die Galle weg zu leiten? O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre Weſen ſtehn! So wuͤrde mich kein Menſch im dichten uͤbergehn. Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten Hinfort ein Sporn zu ſeyn, ein Wetzſtein ihrer Floͤten. Wie dieſer Eiſen ſchaͤrft, und ſelbſt nicht ſchneiden kan: So ſchreib ich ſelber nichts, doch zeig ich lehrend an, Woher der Reichthum kommt, der ſich in Verſen findet, Was einen Dichter zeugt, ernaͤhret, ſtaͤrcket, gruͤndet, Was wohl und uͤbel ſteht, wie Geiſt und Tugend fuͤhrt, Und wie der Unverſtand in Jrrthum ſich verliert. Vernunft und Klugheit ſind die Quellen ſchoͤner Lieder, Durchblaͤttert nur mit Fleiß die Buͤcher hin und wieder, Darinn des Socrates beruͤhmte Weißheit ſteht: So 424 425 433 435 424 So würde mich ꝛc. Wenn er ſich nehmlich die Galle nicht abfuͤhren moͤchte, ſo koͤnnte er endlich auch ſo raſend davon werden, als die andern Poeten waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es iſt eine Jronie. 425 Jch trachte ꝛc. Jſocrates hat dieſes zuerſt geſagt, als man ihn fragte, wie er doch andre ſo beredt machen koͤnnte, da er ſelbſt keine Reden hielte? Horatz ſagt aber er ſchreibe nichts: nehmlich keine groſſen Helden-Gedichte, Tragoͤdien und Comoͤdien, denn das ſind eigentlich Gedichte; und daher gab er ſich vor keinen Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller Poſſen ein Poet zu werden. Es gehoͤrt mehr dazu. 433 Vernunft und Klugheit. Dieſes ſetzt er denen entgegen, die da meynten die Raſerey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine geſunde Vernunft legt den Grund zur wahren Poeſie. 435 Des Socrates ꝛc. Die Socratiſchen, das iſt philoſophiſchen und ſonder- lich moraliſchen Buͤcher ſoll ein kuͤnftiger Poet fleißig leſen. Socrates ſelbſt hat zwar nichts geſchrieben, aber ſeine Schuͤler deſto mehr. Ein Poet ſoll alſo die Welt- weisheit und ſonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne ſie kan er kei- nen einzigen Character recht machen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/66
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/66>, abgerufen am 25.11.2024.