Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
So 424 So würde mich etc. Wenn er sich nehmlich die Galle nicht abführen möchte, so könnte er endlich auch so rasend davon werden, als die andern Poeten waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es ist eine Jronie. 425 Jch trachte etc. Jsocrates hat dieses zuerst gesagt, als man ihn fragte, wie er doch andre so beredt machen könnte, da er selbst keine Reden hielte? Horatz sagt aber er schreibe nichts: nehmlich keine grossen Helden-Gedichte, Tragödien und Comödien, denn das sind eigentlich Gedichte; und daher gab er sich vor keinen Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller Possen ein Poet zu werden. Es gehört mehr dazu. 433 Vernunft und Klugheit. Dieses setzt er denen entgegen, die da meynten die Raserey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine gesunde Vernunft legt den Grund zur wahren Poesie. 435 Des Socrates etc. Die Socratischen, das ist philosophischen und sonder-
lich moralischen Bücher soll ein künftiger Poet fleißig lesen. Socrates selbst hat zwar nichts geschrieben, aber seine Schüler desto mehr. Ein Poet soll also die Welt- weisheit und sonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne sie kan er kei- nen einzigen Character recht machen.
So 424 So würde mich ꝛc. Wenn er ſich nehmlich die Galle nicht abfuͤhren moͤchte, ſo koͤnnte er endlich auch ſo raſend davon werden, als die andern Poeten waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es iſt eine Jronie. 425 Jch trachte ꝛc. Jſocrates hat dieſes zuerſt geſagt, als man ihn fragte, wie er doch andre ſo beredt machen koͤnnte, da er ſelbſt keine Reden hielte? Horatz ſagt aber er ſchreibe nichts: nehmlich keine groſſen Helden-Gedichte, Tragoͤdien und Comoͤdien, denn das ſind eigentlich Gedichte; und daher gab er ſich vor keinen Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller Poſſen ein Poet zu werden. Es gehoͤrt mehr dazu. 433 Vernunft und Klugheit. Dieſes ſetzt er denen entgegen, die da meynten die Raſerey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine geſunde Vernunft legt den Grund zur wahren Poeſie. 435 Des Socrates ꝛc. Die Socratiſchen, das iſt philoſophiſchen und ſonder-
lich moraliſchen Buͤcher ſoll ein kuͤnftiger Poet fleißig leſen. Socrates ſelbſt hat zwar nichts geſchrieben, aber ſeine Schuͤler deſto mehr. Ein Poet ſoll alſo die Welt- weisheit und ſonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne ſie kan er kei- nen einzigen Character recht machen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="18"> <l> <pb facs="#f0066" n="38"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Lebt ſchmutzig, und verhofft; ein ſolch verkehrtes Leben</l><lb/> <l>Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben.</l><lb/> <l>Drum traͤgt ſein wuͤſter Kopf, dem Nieſewurtz ſo gar<lb/><note place="left">420</note>Das Hirn nicht ſaubern kan, ein unverſchnittnes Haar.</l><lb/> <l>Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Fruͤhlings-Zeiten,</l><lb/> <l>Durch manche Cur geſucht die Galle weg zu leiten?</l><lb/> <l>O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre Weſen ſtehn!</l><lb/> <l>So wuͤrde mich kein Menſch im dichten uͤbergehn.<lb/><note place="left">425</note>Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten</l><lb/> <l>Hinfort ein Sporn zu ſeyn, ein Wetzſtein ihrer Floͤten.</l><lb/> <l>Wie dieſer Eiſen ſchaͤrft, und ſelbſt nicht ſchneiden kan:</l><lb/> <l>So ſchreib ich ſelber nichts, doch zeig ich lehrend an,</l><lb/> <l>Woher der Reichthum kommt, der ſich in Verſen findet,<lb/><note place="left">430</note>Was einen Dichter zeugt, ernaͤhret, ſtaͤrcket, gruͤndet,</l><lb/> <l>Was wohl und uͤbel ſteht, wie Geiſt und Tugend fuͤhrt,</l><lb/> <l>Und wie der Unverſtand in Jrrthum ſich verliert.</l><lb/> <l>Vernunft und Klugheit ſind die Quellen ſchoͤner Lieder,</l><lb/> <l>Durchblaͤttert nur mit Fleiß die Buͤcher hin und wieder,<lb/><note place="left">435</note>Darinn des Socrates beruͤhmte Weißheit ſteht:<lb/> <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/><note place="foot" n="424"><hi rendition="#fr">So würde mich ꝛc.</hi> Wenn er ſich nehmlich die Galle nicht abfuͤhren<lb/> moͤchte, ſo koͤnnte er endlich auch ſo raſend davon werden, als die andern Poeten<lb/> waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es iſt eine Jronie.</note><lb/><note place="foot" n="425"><hi rendition="#fr">Jch trachte ꝛc.</hi> Jſocrates hat dieſes zuerſt geſagt, als man ihn fragte,<lb/> wie er doch andre ſo beredt machen koͤnnte, da er ſelbſt keine Reden hielte? Horatz<lb/> ſagt aber er ſchreibe nichts: nehmlich keine groſſen Helden-Gedichte, Tragoͤdien<lb/> und Comoͤdien, denn das ſind eigentlich Gedichte; und daher gab er ſich vor keinen<lb/> Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller<lb/> Poſſen ein Poet zu werden. Es gehoͤrt mehr dazu.</note><lb/><note place="foot" n="433"><hi rendition="#fr">Vernunft und Klugheit.</hi> Dieſes ſetzt er denen entgegen, die da meynten<lb/> die Raſerey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine geſunde<lb/> Vernunft legt den Grund zur wahren Poeſie.</note><lb/><note place="foot" n="435"><hi rendition="#fr">Des Socrates ꝛc.</hi> Die Socratiſchen, das iſt philoſophiſchen und ſonder-<lb/> lich moraliſchen Buͤcher ſoll ein kuͤnftiger Poet fleißig leſen. Socrates ſelbſt hat<lb/> zwar nichts geſchrieben, aber ſeine Schuͤler deſto mehr. Ein Poet ſoll alſo die Welt-<lb/> weisheit und ſonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne ſie kan er kei-<lb/> nen einzigen Character recht machen.</note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0066]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Lebt ſchmutzig, und verhofft; ein ſolch verkehrtes Leben
Werd ihm in aller Welt den Dichter-Nahmen geben.
Drum traͤgt ſein wuͤſter Kopf, dem Nieſewurtz ſo gar
Das Hirn nicht ſaubern kan, ein unverſchnittnes Haar.
Bin ich denn nicht ein Thor, daß ich zu Fruͤhlings-Zeiten,
Durch manche Cur geſucht die Galle weg zu leiten?
O ließ ich doch, wie Sie, dieß albre Weſen ſtehn!
So wuͤrde mich kein Menſch im dichten uͤbergehn.
Doch Grillen! weg damit! Jch trachte den Poeten
Hinfort ein Sporn zu ſeyn, ein Wetzſtein ihrer Floͤten.
Wie dieſer Eiſen ſchaͤrft, und ſelbſt nicht ſchneiden kan:
So ſchreib ich ſelber nichts, doch zeig ich lehrend an,
Woher der Reichthum kommt, der ſich in Verſen findet,
Was einen Dichter zeugt, ernaͤhret, ſtaͤrcket, gruͤndet,
Was wohl und uͤbel ſteht, wie Geiſt und Tugend fuͤhrt,
Und wie der Unverſtand in Jrrthum ſich verliert.
Vernunft und Klugheit ſind die Quellen ſchoͤner Lieder,
Durchblaͤttert nur mit Fleiß die Buͤcher hin und wieder,
Darinn des Socrates beruͤhmte Weißheit ſteht:
So
424
425
433
435
424 So würde mich ꝛc. Wenn er ſich nehmlich die Galle nicht abfuͤhren
moͤchte, ſo koͤnnte er endlich auch ſo raſend davon werden, als die andern Poeten
waren, und folglich einen hohen Rang auf dem Parnaß bekommen. Es iſt eine Jronie.
425 Jch trachte ꝛc. Jſocrates hat dieſes zuerſt geſagt, als man ihn fragte,
wie er doch andre ſo beredt machen koͤnnte, da er ſelbſt keine Reden hielte? Horatz
ſagt aber er ſchreibe nichts: nehmlich keine groſſen Helden-Gedichte, Tragoͤdien
und Comoͤdien, denn das ſind eigentlich Gedichte; und daher gab er ſich vor keinen
Poeten aus. Bey uns denckt man durch ein paar Bogen Hochzeit-Verße voller
Poſſen ein Poet zu werden. Es gehoͤrt mehr dazu.
433 Vernunft und Klugheit. Dieſes ſetzt er denen entgegen, die da meynten
die Raſerey machte Poeten. Er behauptet gerade das Gegentheil. Eine geſunde
Vernunft legt den Grund zur wahren Poeſie.
435 Des Socrates ꝛc. Die Socratiſchen, das iſt philoſophiſchen und ſonder-
lich moraliſchen Buͤcher ſoll ein kuͤnftiger Poet fleißig leſen. Socrates ſelbſt hat
zwar nichts geſchrieben, aber ſeine Schuͤler deſto mehr. Ein Poet ſoll alſo die Welt-
weisheit und ſonderlich die Sittenlehre wohl inne haben: denn ohne ſie kan er kei-
nen einzigen Character recht machen.
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