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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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und Wachsthume der Poesie.
Eira stillir amilli
Gramur ofgifft ad fremri
Gandwikz Jofur Landi.

Jmgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evan-
gelio §. X. T. I. Thes. Antiqu. Germ. diese Probe gegeben.

Fe ock fierwi
Ränsi firthakind
Sa himm grimmi Greppur
Yfr tha Gautu
Er han warthathi
Nathi einginn kwikur komast.

Daß diese alte Schwedische Sprache wo nicht eine Mutter,
wie Rudbeck in seiner Atlantica, nebst andern Schweden
behaupten wollen, doch zum wenigsten eben sowohl eine Toch-
ter der Scythischen, als die alte Celtische gewesen sey, von
welcher die Deutsche ihren Ursprung hat; daß zeigen so viele
Wörter, die in diesen beyden Proben, an Verstand und Buch-
staben mit unsern heutigen übereinkommen; wenn man die
an oberwehnten Orten befindliche lateinische Ubersetzung zu
Hülfe nimmt, und sonderlich der plattdeutschen Mundart
mächtig ist. Z. E. lid heißt leiten, bannat, verbannet, kan
ist völlig kan; Fridroß, Friedensbruch; Kongar König;
sialfur, selber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi,
land. Und in dem andern heißt ok auch, firthakind, Men-
schenkind, grimmi, grimmige, yfr, über, tha, die,
warthathi, bewahrete, einginn, einiger, komast kom-
men. Doch dieses nur beyläufig.

Fragen wir also worinn die damahlige Poesie der Alten
denn eigentlich bestanden: so müssen wir sie, im Absehen auf
das Aeusserliche, bloß in der ungefehr getroffenen Gleichheit
der Zeilen suchen. Es traf sich irgend so, daß die kurzen Ab-
schnitte der Rede, oder kleinen Theile der Lieder, fast einerley
Anzahl der Sylben hatten. Doch gieng es damit so genau
nicht zu. Es kam ihnen nicht darauf an, ob die eine Zeile
etliche Sylben mehr oder weniger hatte, als die andre. Die
Geschwindigkeit des Singens verkürzte die langen, und die

Lang-
und Wachsthume der Poeſie.
Eira ſtillir amilli
Gramur ofgifft ad fremri
Gandwikz Jofur Landi.

Jmgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evan-
gelio §. X. T. I. Theſ. Antiqu. Germ. dieſe Probe gegeben.

Fe ock fierwi
Raͤnſi firthakind
Sa himm grimmi Greppur
Yfr tha Gautu
Er han warthathi
Nathi einginn kwikur komaſt.

Daß dieſe alte Schwediſche Sprache wo nicht eine Mutter,
wie Rudbeck in ſeiner Atlantica, nebſt andern Schweden
behaupten wollen, doch zum wenigſten eben ſowohl eine Toch-
ter der Scythiſchen, als die alte Celtiſche geweſen ſey, von
welcher die Deutſche ihren Urſprung hat; daß zeigen ſo viele
Woͤrter, die in dieſen beyden Proben, an Verſtand und Buch-
ſtaben mit unſern heutigen uͤbereinkommen; wenn man die
an oberwehnten Orten befindliche lateiniſche Uberſetzung zu
Huͤlfe nimmt, und ſonderlich der plattdeutſchen Mundart
maͤchtig iſt. Z. E. lid heißt leiten, bannat, verbannet, kan
iſt voͤllig kan; Fridroß, Friedensbruch; Kongar Koͤnig;
ſialfur, ſelber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi,
land. Und in dem andern heißt ok auch, firthakind, Men-
ſchenkind, grimmi, grimmige, yfr, uͤber, tha, die,
warthathi, bewahrete, einginn, einiger, komaſt kom-
men. Doch dieſes nur beylaͤufig.

Fragen wir alſo worinn die damahlige Poeſie der Alten
denn eigentlich beſtanden: ſo muͤſſen wir ſie, im Abſehen auf
das Aeuſſerliche, bloß in der ungefehr getroffenen Gleichheit
der Zeilen ſuchen. Es traf ſich irgend ſo, daß die kurzen Ab-
ſchnitte der Rede, oder kleinen Theile der Lieder, faſt einerley
Anzahl der Sylben hatten. Doch gieng es damit ſo genau
nicht zu. Es kam ihnen nicht darauf an, ob die eine Zeile
etliche Sylben mehr oder weniger hatte, als die andre. Die
Geſchwindigkeit des Singens verkuͤrzte die langen, und die

Lang-
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[61/0089] und Wachsthume der Poeſie. Eira ſtillir amilli Gramur ofgifft ad fremri Gandwikz Jofur Landi. Jmgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evan- gelio §. X. T. I. Theſ. Antiqu. Germ. dieſe Probe gegeben. Fe ock fierwi Raͤnſi firthakind Sa himm grimmi Greppur Yfr tha Gautu Er han warthathi Nathi einginn kwikur komaſt. Daß dieſe alte Schwediſche Sprache wo nicht eine Mutter, wie Rudbeck in ſeiner Atlantica, nebſt andern Schweden behaupten wollen, doch zum wenigſten eben ſowohl eine Toch- ter der Scythiſchen, als die alte Celtiſche geweſen ſey, von welcher die Deutſche ihren Urſprung hat; daß zeigen ſo viele Woͤrter, die in dieſen beyden Proben, an Verſtand und Buch- ſtaben mit unſern heutigen uͤbereinkommen; wenn man die an oberwehnten Orten befindliche lateiniſche Uberſetzung zu Huͤlfe nimmt, und ſonderlich der plattdeutſchen Mundart maͤchtig iſt. Z. E. lid heißt leiten, bannat, verbannet, kan iſt voͤllig kan; Fridroß, Friedensbruch; Kongar Koͤnig; ſialfur, ſelber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi, land. Und in dem andern heißt ok auch, firthakind, Men- ſchenkind, grimmi, grimmige, yfr, uͤber, tha, die, warthathi, bewahrete, einginn, einiger, komaſt kom- men. Doch dieſes nur beylaͤufig. Fragen wir alſo worinn die damahlige Poeſie der Alten denn eigentlich beſtanden: ſo muͤſſen wir ſie, im Abſehen auf das Aeuſſerliche, bloß in der ungefehr getroffenen Gleichheit der Zeilen ſuchen. Es traf ſich irgend ſo, daß die kurzen Ab- ſchnitte der Rede, oder kleinen Theile der Lieder, faſt einerley Anzahl der Sylben hatten. Doch gieng es damit ſo genau nicht zu. Es kam ihnen nicht darauf an, ob die eine Zeile etliche Sylben mehr oder weniger hatte, als die andre. Die Geſchwindigkeit des Singens verkuͤrzte die langen, und die Lang-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/89>, abgerufen am 27.11.2024.