zuweilen von ungefehr, ohne daß sie daran gedacht. Z. E. Ein jeder Franzose giebt zu, daß folgende Verße einen recht unvergleichlichen Wohlklang haben:
Quoy? nous playdons, dit-il, tendant ses mains au port, Aupres de ces Vaisseaux, & l'on me fait ce tort, De me le disputer! O Dieux! en leur presence, Ulysse avec Ajax est mis en concurrence! Ce lache qui fuyoit Hector & ses braulots, Quand j'en soautins l'effort, au milieu de ces flots.
Aber niemand wird es gewahr daß dieser Vers fast durchge- hends aus lauter Jamben besteht, so daß alle Sylben ihren natürlichen Accent behalten, den sie in ungebundner Rede haben. Eben das könnte man auch von Jtalienern und Spa- niern erweisen, wenn es hieher gehörete.
Da nun alle diese Nationen, und die Pohlen noch dazu, bey dieser unvollkommenen Art Verße zu machen geblieben: so haben die Deutschen sie gewiß weit übertroffen. Unsre Poeten haben durch die Zärtlichkeit ihres Gehöres es bald gemercket, daß die regelmäßige Abwechselung langer und kurtzer Sylben, dadurch die griechische und römische Poesie so vollkommen geworden, auch in unsrer Muttersprache statt haben könne; und daher hat man schon vor unserm grossen Opitz allerley Gattungen des Sylbenmaaßes gebraucht. Z. E. Winsbeck, der am Hofe des Käysers Barbarossa ge- lebt, hat die Ermahnung an seinen Sohn in lauter jambischen, und zwar ziemlich reinen Verßen beschrieben: Es heist gleich von Anfang:
Ein wiser Man hat einen Sun, Der was im lieb als mannigem ist, Den wolt er lernen rechte tun, Und sprach also: Min Sun du bist Mir lieb an allen falschen List, Bin ich dir sam du selbe dir so volge mir ze dirre Frist: Diewile du lebest es ist dir guot Ob dich ein Frömbder ziehen sol, du weist nicht wie er ist gemuot.
Jn dieser ersten Strophe ist nur das Wort mannigem, die- wile und lebest, wieder das ordentliche Sylbenmaaß: alles
übri-
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und Wachsthume der Poeſie.
zuweilen von ungefehr, ohne daß ſie daran gedacht. Z. E. Ein jeder Franzoſe giebt zu, daß folgende Verße einen recht unvergleichlichen Wohlklang haben:
Quoy? nous playdons, dit-il, tendant ſes mains au port, Auprés de ces Vaiſſeaux, & l’on me fait ce tort, De me le diſputer! O Dieux! en leur preſence, Ulyſſe avec Ajax eſt mis en concurrence! Ce lâche qui fuyoit Hector & ſes brûlots, Quand j’en ſoûtins l’effort, au milieu de ces flots.
Aber niemand wird es gewahr daß dieſer Vers faſt durchge- hends aus lauter Jamben beſteht, ſo daß alle Sylben ihren natuͤrlichen Accent behalten, den ſie in ungebundner Rede haben. Eben das koͤnnte man auch von Jtalienern und Spa- niern erweiſen, wenn es hieher gehoͤrete.
Da nun alle dieſe Nationen, und die Pohlen noch dazu, bey dieſer unvollkommenen Art Verße zu machen geblieben: ſo haben die Deutſchen ſie gewiß weit uͤbertroffen. Unſre Poeten haben durch die Zaͤrtlichkeit ihres Gehoͤres es bald gemercket, daß die regelmaͤßige Abwechſelung langer und kurtzer Sylben, dadurch die griechiſche und roͤmiſche Poeſie ſo vollkommen geworden, auch in unſrer Mutterſprache ſtatt haben koͤnne; und daher hat man ſchon vor unſerm groſſen Opitz allerley Gattungen des Sylbenmaaßes gebraucht. Z. E. Winsbeck, der am Hofe des Kaͤyſers Barbaroſſa ge- lebt, hat die Ermahnung an ſeinen Sohn in lauter jambiſchen, und zwar ziemlich reinen Verßen beſchrieben: Es heiſt gleich von Anfang:
Ein wiſer Man hat einen Sun, Der was im lieb als mannigem iſt, Den wolt er lernen rechte tun, Und ſprach alſo: Min Sun du biſt Mir lieb an allen falſchen Liſt, Bin ich dir ſam du ſelbe dir ſo volge mir ze dirre Friſt: Diewile du lebeſt es iſt dir guot Ob dich ein Froͤmbder ziehen ſol, du weiſt nicht wie er iſt gemuot.
Jn dieſer erſten Strophe iſt nur das Wort mannigem, die- wile und lebeſt, wieder das ordentliche Sylbenmaaß: alles
uͤbri-
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und Wachsthume der Poeſie.
zuweilen von ungefehr, ohne daß ſie daran gedacht. Z. E.
Ein jeder Franzoſe giebt zu, daß folgende Verße einen recht
unvergleichlichen Wohlklang haben:
Quoy? nous playdons, dit-il, tendant ſes mains au port,
Auprés de ces Vaiſſeaux, & l’on me fait ce tort,
De me le diſputer! O Dieux! en leur preſence,
Ulyſſe avec Ajax eſt mis en concurrence!
Ce lâche qui fuyoit Hector & ſes brûlots,
Quand j’en ſoûtins l’effort, au milieu de ces flots.
Aber niemand wird es gewahr daß dieſer Vers faſt durchge-
hends aus lauter Jamben beſteht, ſo daß alle Sylben ihren
natuͤrlichen Accent behalten, den ſie in ungebundner Rede
haben. Eben das koͤnnte man auch von Jtalienern und Spa-
niern erweiſen, wenn es hieher gehoͤrete.
Da nun alle dieſe Nationen, und die Pohlen noch dazu,
bey dieſer unvollkommenen Art Verße zu machen geblieben:
ſo haben die Deutſchen ſie gewiß weit uͤbertroffen. Unſre
Poeten haben durch die Zaͤrtlichkeit ihres Gehoͤres es bald
gemercket, daß die regelmaͤßige Abwechſelung langer und
kurtzer Sylben, dadurch die griechiſche und roͤmiſche Poeſie
ſo vollkommen geworden, auch in unſrer Mutterſprache ſtatt
haben koͤnne; und daher hat man ſchon vor unſerm groſſen
Opitz allerley Gattungen des Sylbenmaaßes gebraucht.
Z. E. Winsbeck, der am Hofe des Kaͤyſers Barbaroſſa ge-
lebt, hat die Ermahnung an ſeinen Sohn in lauter jambiſchen,
und zwar ziemlich reinen Verßen beſchrieben: Es heiſt gleich
von Anfang:
Ein wiſer Man hat einen Sun,
Der was im lieb als mannigem iſt,
Den wolt er lernen rechte tun,
Und ſprach alſo: Min Sun du biſt
Mir lieb an allen falſchen Liſt,
Bin ich dir ſam du ſelbe dir ſo volge mir ze dirre Friſt:
Diewile du lebeſt es iſt dir guot
Ob dich ein Froͤmbder ziehen ſol, du weiſt nicht wie er iſt
gemuot.
Jn dieſer erſten Strophe iſt nur das Wort mannigem, die-
wile und lebeſt, wieder das ordentliche Sylbenmaaß: alles
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/95>, abgerufen am 28.11.2024.
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