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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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mischen Wahnsinn nicht entgangen. In einer Provinzialstadt haben vor
Kurzem ihre Bewunderer sich als Postillone verkleidet, und ihr die Pferde
ausgespannt. Wenn nun ein Mann von gesundem Verstande diesen ihm
unerklärlichen Aufzug gesehen, und gefragt hätte, welchen großen Bürger
man da ehren wolle, welchen Vater des Vaterlandes man auf das Cavitol
bringe, so würde die Antwort lauten:

"Nichts von alle dem! Es ist dieß ein junges Mädchen von zwanzig
Jahren, die mit Recht bewundert wird, wegen der Art, wie sie die Verse
Racine's und Corneille's hersagt, und deren edle Einfachheit man durch Eh¬
renbezeugungen, die ebenso übertrieben als lächerlich sind, zu Grunde rich¬
ten will."

Wie soll da ein einigermaßen eitler Schauspieler die Gefahr, sich zu
überschätzen vermeiden? Heute muß nicht mehr der Schauspieler dem Dich¬
ter, sondern dieser Jenem schmeicheln. Meyerbeer antichambrirt bei Duprez,
Hugo und Delavigne klopfen bescheidentlich an der Thüre der Herren von
der Rue Richelieu, Grillparzer bekomplimentirt Herrn Löwe, Gutzkow macht
Mad. Haitzinger seine Aufwartung, mittelmäßige Sänger grüßen aus ihrem
Tilbury mit Gönnermiene den genialen Componisten, der zu Fuße geht.
Ein italienischer Sänger, der nicht mehr wußte, wohinaus mit seiner Eitel¬
keit, verlangte den Orden der Ehrenlegion, und wenig fehlte, so hätte Herr
Rubini ihn wirklich bekommen. Das Alles ist ernster und richtiger, als
man glaubt. Kein Mißbrauch steht allein, er reicht die Hand dem andern
und sie verbreiten sich wie electrische Schläge. Das Uebel liegt nicht in
den scandalösen Gehalten, in einigen empörenden Ungerechtigkeiten und fre¬
velhaftem Götzendienst, sondern darin, daß die Frivolität einmal auf dem
Throne sitzt. Das goldene Zeitalter der Sänger und Tänzerinnen hat die
Literatur der Boulevardstheater hervorgebracht, und mit ihr die Legion der
Vandeville- und Melodramenfabrikanten, deren unzüchtige Produkte selbst
das keusche deutsche Land erobern. Bei so bewandten Dingen muß der Ge¬
nius zurückstehen, das Talent wird vergeudet, die Oper wird zur Ariette,
die Tragödie zum Melodrama, das Lustspiel zur Posse, die Malerei
zur Vignette, die Symphonie zum Variationengeklimper. Seit 10 Jahren
ist von Seiten der französischen Academie ein Preis ausgesetzt für das beste
Drama oder Lustspiel in 5 Acten und in Versen. Aber die Candidaten
lassen auf sich warten. Wie sollte es auch anders sein? Wird es der Ber¬
liner Preisausschreibung etwa besser ergehen? Wie soll die Kunst gedeihen,
wo blos das Handwerk belohnt wird. Wie will man einem edlen jungen
Manne zumuthen, sich aufzureiben an einem genialen Werk voll Poesie und
tiefer Gedanken, wo das Resultat in Händen eines Schauspielers liegt, der
unbestraft sein Werk vernichten kann, sobald es seinem Naturell sich nicht

mischen Wahnsinn nicht entgangen. In einer Provinzialstadt haben vor
Kurzem ihre Bewunderer sich als Postillone verkleidet, und ihr die Pferde
ausgespannt. Wenn nun ein Mann von gesundem Verstande diesen ihm
unerklärlichen Aufzug gesehen, und gefragt hätte, welchen großen Bürger
man da ehren wolle, welchen Vater des Vaterlandes man auf das Cavitol
bringe, so würde die Antwort lauten:

„Nichts von alle dem! Es ist dieß ein junges Mädchen von zwanzig
Jahren, die mit Recht bewundert wird, wegen der Art, wie sie die Verse
Racine's und Corneille's hersagt, und deren edle Einfachheit man durch Eh¬
renbezeugungen, die ebenso übertrieben als lächerlich sind, zu Grunde rich¬
ten will.“

Wie soll da ein einigermaßen eitler Schauspieler die Gefahr, sich zu
überschätzen vermeiden? Heute muß nicht mehr der Schauspieler dem Dich¬
ter, sondern dieser Jenem schmeicheln. Meyerbeer antichambrirt bei Duprez,
Hugo und Delavigne klopfen bescheidentlich an der Thüre der Herren von
der Rue Richelieu, Grillparzer bekomplimentirt Herrn Löwe, Gutzkow macht
Mad. Haitzinger seine Aufwartung, mittelmäßige Sänger grüßen aus ihrem
Tilbury mit Gönnermiene den genialen Componisten, der zu Fuße geht.
Ein italienischer Sänger, der nicht mehr wußte, wohinaus mit seiner Eitel¬
keit, verlangte den Orden der Ehrenlegion, und wenig fehlte, so hätte Herr
Rubini ihn wirklich bekommen. Das Alles ist ernster und richtiger, als
man glaubt. Kein Mißbrauch steht allein, er reicht die Hand dem andern
und sie verbreiten sich wie electrische Schläge. Das Uebel liegt nicht in
den scandalösen Gehalten, in einigen empörenden Ungerechtigkeiten und fre¬
velhaftem Götzendienst, sondern darin, daß die Frivolität einmal auf dem
Throne sitzt. Das goldene Zeitalter der Sänger und Tänzerinnen hat die
Literatur der Boulevardstheater hervorgebracht, und mit ihr die Legion der
Vandeville- und Melodramenfabrikanten, deren unzüchtige Produkte selbst
das keusche deutsche Land erobern. Bei so bewandten Dingen muß der Ge¬
nius zurückstehen, das Talent wird vergeudet, die Oper wird zur Ariette,
die Tragödie zum Melodrama, das Lustspiel zur Posse, die Malerei
zur Vignette, die Symphonie zum Variationengeklimper. Seit 10 Jahren
ist von Seiten der französischen Academie ein Preis ausgesetzt für das beste
Drama oder Lustspiel in 5 Acten und in Versen. Aber die Candidaten
lassen auf sich warten. Wie sollte es auch anders sein? Wird es der Ber¬
liner Preisausschreibung etwa besser ergehen? Wie soll die Kunst gedeihen,
wo blos das Handwerk belohnt wird. Wie will man einem edlen jungen
Manne zumuthen, sich aufzureiben an einem genialen Werk voll Poesie und
tiefer Gedanken, wo das Resultat in Händen eines Schauspielers liegt, der
unbestraft sein Werk vernichten kann, sobald es seinem Naturell sich nicht

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[139/0147] mischen Wahnsinn nicht entgangen. In einer Provinzialstadt haben vor Kurzem ihre Bewunderer sich als Postillone verkleidet, und ihr die Pferde ausgespannt. Wenn nun ein Mann von gesundem Verstande diesen ihm unerklärlichen Aufzug gesehen, und gefragt hätte, welchen großen Bürger man da ehren wolle, welchen Vater des Vaterlandes man auf das Cavitol bringe, so würde die Antwort lauten: „Nichts von alle dem! Es ist dieß ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, die mit Recht bewundert wird, wegen der Art, wie sie die Verse Racine's und Corneille's hersagt, und deren edle Einfachheit man durch Eh¬ renbezeugungen, die ebenso übertrieben als lächerlich sind, zu Grunde rich¬ ten will.“ Wie soll da ein einigermaßen eitler Schauspieler die Gefahr, sich zu überschätzen vermeiden? Heute muß nicht mehr der Schauspieler dem Dich¬ ter, sondern dieser Jenem schmeicheln. Meyerbeer antichambrirt bei Duprez, Hugo und Delavigne klopfen bescheidentlich an der Thüre der Herren von der Rue Richelieu, Grillparzer bekomplimentirt Herrn Löwe, Gutzkow macht Mad. Haitzinger seine Aufwartung, mittelmäßige Sänger grüßen aus ihrem Tilbury mit Gönnermiene den genialen Componisten, der zu Fuße geht. Ein italienischer Sänger, der nicht mehr wußte, wohinaus mit seiner Eitel¬ keit, verlangte den Orden der Ehrenlegion, und wenig fehlte, so hätte Herr Rubini ihn wirklich bekommen. Das Alles ist ernster und richtiger, als man glaubt. Kein Mißbrauch steht allein, er reicht die Hand dem andern und sie verbreiten sich wie electrische Schläge. Das Uebel liegt nicht in den scandalösen Gehalten, in einigen empörenden Ungerechtigkeiten und fre¬ velhaftem Götzendienst, sondern darin, daß die Frivolität einmal auf dem Throne sitzt. Das goldene Zeitalter der Sänger und Tänzerinnen hat die Literatur der Boulevardstheater hervorgebracht, und mit ihr die Legion der Vandeville- und Melodramenfabrikanten, deren unzüchtige Produkte selbst das keusche deutsche Land erobern. Bei so bewandten Dingen muß der Ge¬ nius zurückstehen, das Talent wird vergeudet, die Oper wird zur Ariette, die Tragödie zum Melodrama, das Lustspiel zur Posse, die Malerei zur Vignette, die Symphonie zum Variationengeklimper. Seit 10 Jahren ist von Seiten der französischen Academie ein Preis ausgesetzt für das beste Drama oder Lustspiel in 5 Acten und in Versen. Aber die Candidaten lassen auf sich warten. Wie sollte es auch anders sein? Wird es der Ber¬ liner Preisausschreibung etwa besser ergehen? Wie soll die Kunst gedeihen, wo blos das Handwerk belohnt wird. Wie will man einem edlen jungen Manne zumuthen, sich aufzureiben an einem genialen Werk voll Poesie und tiefer Gedanken, wo das Resultat in Händen eines Schauspielers liegt, der unbestraft sein Werk vernichten kann, sobald es seinem Naturell sich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/147>, abgerufen am 24.11.2024.