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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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wir leicht eine so gründliche Umkehr begreifen können, wie dazu gehörte,
um den Hauptmann zu vermögen, seinen Posten zu verlassen, und dem
Herzoge nach England zu folgen. Schmerzlich und drückend ist die Theil¬
nahme, welche die stumme Heldin uns abfordert. Naturfehler sind etwas
Willkührliches für die Poesie, deren wahre Schranken und Reizmittel im
Menschen und in der Gesellschaft liegen. --

Das Kind des Thales, Novelle von Eduard von Bülow, ist
aus dem Canterbury Tales vou Miß Sophie Lee entnommen, und in
die Hälfte des ursprünglichen Umfanges umgedichtet. Wäre nicht zu wün¬
schen, daß viele Schriftsteller auf diese Art dichteten? -- Gar munter
und rasch hebt das Stück an. Pembroke reitet in den Gebirgen von Wa¬
les umher, um sich einen Sohn zu suchen, da sein häusliches Glück, durch
den Besitz einer Tochter, nicht erfüllt ist. An einem Wassersturz zwischen
Felsen vernimmt er einen Schrei; ein Knabe, der von einer schwebenden
Brücke gefallen, liegt zu seinen Füßen. Mit dem kostbaren Funde eilt der
Reiter heim. Die Geschichte des Knaben und seiner Eltern bildet den In¬
halt der dann folgenden Geschichte, die oft schleppend ausfällt, und nicht
selten zur bloßen Relation hinabsinkt. Eine der Hauptfiguren, des Find¬
lings Vater, eine Art alter Jüngling, der die ganze Erde durchwandert,
Opium zu sich nimmt, von dem Geiste seiner verstorbenen Gattin besucht
wird, hinterher aber selbst Geist spielt, wäre für den deutschen Schrift¬
steller ein Vorwurf zu völliger Umdichtung gewesen. Die englische Novel-
listik begnügt sich leicht mit der naturgetreuen Richtigkeit, und da reichen
denn auch die angegebenen Sachen zum Füllsel eines Charakters aus; statt
dessen hätte der deutsche Bearbeiter mehr vom Eignen hinzuthun können.--
Unter anspruchslosem Titel tritt uns der lahme Hans, eine Dorf¬
geschichte von Wilhelm Martell entgegen. Wenn der Leser darin ein
keckes, bäuerliches Stück, mit lustigen Ausschweifungen, natürlichen, muntern Ge-
berden finden kann, so hat der Verfasser gewiß den Zweck erreicht, den er dabei
im Auge haben mochte. Ohne dem Leser die Lectüre, die immer unterhaltend
ist, verleiden zu wollen, müssen wir doch dem Produkte den Anspruch auf
einen Platz in der Urania streitig machen, wofern dieselbe nicht mitVolks-
kalendern wetteifern will. Wir sehen da ein wunderliches Gemisch von
Bornirtheit und Sentimentalität, ohne Fluß und Ton. Dem Witze ist
kein Ort und kein Stand unzugänglich; warum sollen wir uns hier mit
Späßen begnügen? Weiter bringt's aber der Verfasser nicht. --

Das neue Jahr, Novelle vou Frau von W., ein mit leichter,
fester Feder gezeichnetes Stück, in dessen Zügen die Kunst einer geehrten
Schriftstellerin nicht zu verkennen ist. Eleganz der Gestaltung, Natürlichkeit
und Wärme des Gefühls, wovon die Dichtung durchdrungen ist, bereiten

wir leicht eine so gründliche Umkehr begreifen können, wie dazu gehörte,
um den Hauptmann zu vermögen, seinen Posten zu verlassen, und dem
Herzoge nach England zu folgen. Schmerzlich und drückend ist die Theil¬
nahme, welche die stumme Heldin uns abfordert. Naturfehler sind etwas
Willkührliches für die Poesie, deren wahre Schranken und Reizmittel im
Menschen und in der Gesellschaft liegen. —

Das Kind des Thales, Novelle von Eduard von Bülow, ist
aus dem Canterbury Tales vou Miß Sophie Lee entnommen, und in
die Hälfte des ursprünglichen Umfanges umgedichtet. Wäre nicht zu wün¬
schen, daß viele Schriftsteller auf diese Art dichteten? — Gar munter
und rasch hebt das Stück an. Pembroke reitet in den Gebirgen von Wa¬
les umher, um sich einen Sohn zu suchen, da sein häusliches Glück, durch
den Besitz einer Tochter, nicht erfüllt ist. An einem Wassersturz zwischen
Felsen vernimmt er einen Schrei; ein Knabe, der von einer schwebenden
Brücke gefallen, liegt zu seinen Füßen. Mit dem kostbaren Funde eilt der
Reiter heim. Die Geschichte des Knaben und seiner Eltern bildet den In¬
halt der dann folgenden Geschichte, die oft schleppend ausfällt, und nicht
selten zur bloßen Relation hinabsinkt. Eine der Hauptfiguren, des Find¬
lings Vater, eine Art alter Jüngling, der die ganze Erde durchwandert,
Opium zu sich nimmt, von dem Geiste seiner verstorbenen Gattin besucht
wird, hinterher aber selbst Geist spielt, wäre für den deutschen Schrift¬
steller ein Vorwurf zu völliger Umdichtung gewesen. Die englische Novel-
listik begnügt sich leicht mit der naturgetreuen Richtigkeit, und da reichen
denn auch die angegebenen Sachen zum Füllsel eines Charakters aus; statt
dessen hätte der deutsche Bearbeiter mehr vom Eignen hinzuthun können.—
Unter anspruchslosem Titel tritt uns der lahme Hans, eine Dorf¬
geschichte von Wilhelm Martell entgegen. Wenn der Leser darin ein
keckes, bäuerliches Stück, mit lustigen Ausschweifungen, natürlichen, muntern Ge-
berden finden kann, so hat der Verfasser gewiß den Zweck erreicht, den er dabei
im Auge haben mochte. Ohne dem Leser die Lectüre, die immer unterhaltend
ist, verleiden zu wollen, müssen wir doch dem Produkte den Anspruch auf
einen Platz in der Urania streitig machen, wofern dieselbe nicht mitVolks-
kalendern wetteifern will. Wir sehen da ein wunderliches Gemisch von
Bornirtheit und Sentimentalität, ohne Fluß und Ton. Dem Witze ist
kein Ort und kein Stand unzugänglich; warum sollen wir uns hier mit
Späßen begnügen? Weiter bringt's aber der Verfasser nicht. —

Das neue Jahr, Novelle vou Frau von W., ein mit leichter,
fester Feder gezeichnetes Stück, in dessen Zügen die Kunst einer geehrten
Schriftstellerin nicht zu verkennen ist. Eleganz der Gestaltung, Natürlichkeit
und Wärme des Gefühls, wovon die Dichtung durchdrungen ist, bereiten

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[242/0250] wir leicht eine so gründliche Umkehr begreifen können, wie dazu gehörte, um den Hauptmann zu vermögen, seinen Posten zu verlassen, und dem Herzoge nach England zu folgen. Schmerzlich und drückend ist die Theil¬ nahme, welche die stumme Heldin uns abfordert. Naturfehler sind etwas Willkührliches für die Poesie, deren wahre Schranken und Reizmittel im Menschen und in der Gesellschaft liegen. — Das Kind des Thales, Novelle von Eduard von Bülow, ist aus dem Canterbury Tales vou Miß Sophie Lee entnommen, und in die Hälfte des ursprünglichen Umfanges umgedichtet. Wäre nicht zu wün¬ schen, daß viele Schriftsteller auf diese Art dichteten? — Gar munter und rasch hebt das Stück an. Pembroke reitet in den Gebirgen von Wa¬ les umher, um sich einen Sohn zu suchen, da sein häusliches Glück, durch den Besitz einer Tochter, nicht erfüllt ist. An einem Wassersturz zwischen Felsen vernimmt er einen Schrei; ein Knabe, der von einer schwebenden Brücke gefallen, liegt zu seinen Füßen. Mit dem kostbaren Funde eilt der Reiter heim. Die Geschichte des Knaben und seiner Eltern bildet den In¬ halt der dann folgenden Geschichte, die oft schleppend ausfällt, und nicht selten zur bloßen Relation hinabsinkt. Eine der Hauptfiguren, des Find¬ lings Vater, eine Art alter Jüngling, der die ganze Erde durchwandert, Opium zu sich nimmt, von dem Geiste seiner verstorbenen Gattin besucht wird, hinterher aber selbst Geist spielt, wäre für den deutschen Schrift¬ steller ein Vorwurf zu völliger Umdichtung gewesen. Die englische Novel- listik begnügt sich leicht mit der naturgetreuen Richtigkeit, und da reichen denn auch die angegebenen Sachen zum Füllsel eines Charakters aus; statt dessen hätte der deutsche Bearbeiter mehr vom Eignen hinzuthun können.— Unter anspruchslosem Titel tritt uns der lahme Hans, eine Dorf¬ geschichte von Wilhelm Martell entgegen. Wenn der Leser darin ein keckes, bäuerliches Stück, mit lustigen Ausschweifungen, natürlichen, muntern Ge- berden finden kann, so hat der Verfasser gewiß den Zweck erreicht, den er dabei im Auge haben mochte. Ohne dem Leser die Lectüre, die immer unterhaltend ist, verleiden zu wollen, müssen wir doch dem Produkte den Anspruch auf einen Platz in der Urania streitig machen, wofern dieselbe nicht mitVolks- kalendern wetteifern will. Wir sehen da ein wunderliches Gemisch von Bornirtheit und Sentimentalität, ohne Fluß und Ton. Dem Witze ist kein Ort und kein Stand unzugänglich; warum sollen wir uns hier mit Späßen begnügen? Weiter bringt's aber der Verfasser nicht. — Das neue Jahr, Novelle vou Frau von W., ein mit leichter, fester Feder gezeichnetes Stück, in dessen Zügen die Kunst einer geehrten Schriftstellerin nicht zu verkennen ist. Eleganz der Gestaltung, Natürlichkeit und Wärme des Gefühls, wovon die Dichtung durchdrungen ist, bereiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/250>, abgerufen am 21.11.2024.