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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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um zehn Uhr. Wir unseres Theils gehören nicht zu den Menschen, die
der lieben Abendstunde wegen über die Länge eines Stückes den Stab brechen,
und wenn das Ende herannaht, eine solche Unruhe kund geben, daß man
ihnen ansehen muß, wie ein angebrannter Braten ober das Kaltwerden
eines Ragout ihre Fantasie viel mehr in Anspruch nimmt, als das Hin-
morden eines Unschuldigen. Dennoch können auch wir nicht umhin, uns
gegen eine solche Ausdehnung zu erklären. Auch das aufmerksamste, ästhe¬
tisch-kräftigste Auditorium wird am Ende müde durch die zu großen Massen,
die man, nur durch kleine Zwischenakte unterbrochen, auf dasselbe einströmen
läßt;*) es kann sich unmöglich in gleicher Aufregung erhalten, selbst bei einer
Vorstellung, wie wir gestern gesehen, wobei von Seiten der darstellenden
Künstler der letzte Moment mit derselben Energie durchgeführt wurde, wie
der erste, und der gestrigen Aufführung ist wo möglich noch mehr Voll¬
endung anzurühmen, als der ersten. Vor Allen Mlle. Stubenrauch
als Christine. Diese Künstlerin bedarf solcher erhabenen Poesie, um ihr
Kunstwesen in vollem Glänze leuchten zu lassen. Je mächtiger eines Dichters
Genius die Flügel rührt, je höher er sich emporschwingt, desto mächtiger hebt
sich auch ihre Künstlerseele, alle Fesseln von sich werfend, einig und unzer¬
trennlich von der Aufgabe, in die sie ohne zu zagen, das ganze Lebensblut
treten läßt. Dabei ist es bei ihr kein zu frühes Uebssprudeln, kein köpflings
Hineinwerfen in einen Theaterstrom zu Überwältigung einer staunenden
Menge; mit dem vollen Herzen geht ein scharfer Geist Hand in Hand.
Sie versteht es nicht- nur, eine Scene zur Möglichkeit einer Steigerung im
Einzelnen anzulegen, sondern eben so ein großes dramatisches Werk zu be¬
handeln. Wir mußten dieses gestern wieder in vollem Maße wahrnehmen.
Die gänzliche Auflösung in die unbezähmbare Leidenschaft eines, in allen
seinen Empfindungen tödtlich verletzten Weibes, mußte unser Mark durch¬
dringen, aber wir waren nicht unvorbereitet, wir begriffen, wie es sich so
in ihr gestalten konnte. Wir begriffen, wie die bebenden Nerven, die tobenden
Adern in dein kleinen Nathe der Schweden, die sie in Hast versammelte,
die Anklage nur mit zitternder Stimme von der Wuth kurz abgestoßen, her¬
vorbringen ließen. Ein von dem Dichter schön gehaltener Gegensatz gegen
diese Königin ist der edle Graf von Breche, ein Schwede, der das Bitterste
erträgt aus Liebe für --die Tochter Gustav Adolfs, ein Mann der Wahr-

*) Warum haben die Franzosen Geduld, einen ganzen Abend von 6 bis 11 Uhr
und oftmals noch länger im Theater zuzubringen? Allerdings gibt man gewöhn¬
lich ein kleines Stück als Vorspiel; aber die großen Dramen dauern darum
nicht minder 4 bis fünfthalb Stunden. Und vollends die Opern! Robert uud die
Hugenotten enden nicht vor Mitternacht! -- Wir Deutschen rühmen uns so
gerne unseres Ernstes, unsrer tiefern Hingebung, unseres tiefern Eingehens in
ein Kunstwerk, und doch lassen wir uns hierin von den Franzosen den Rang ab¬
laufen; unsere Dichter müssen flüchtig mit ihren Charakteren die Scenen durch¬
laufen, um die ernste Nation ja nicht zu ermüden, und selbst an die erhabenen und und
theuren Dichtungen Schillers muß der Regisseur die vandalische Scheere legen
um das gestrenge tiefeingehende hingebungsvolle deutsche Publikum nicht mit Grimm
und Zorn, wegen seines verspäteten Nachtessens und aufgeschobener Schlafhau-
benkrönung, zu erfüllen. Uud dann ruft man den mordernen Dichtern zu
Shakspeare! Charakteristik!    A. d. R.

um zehn Uhr. Wir unseres Theils gehören nicht zu den Menschen, die
der lieben Abendstunde wegen über die Länge eines Stückes den Stab brechen,
und wenn das Ende herannaht, eine solche Unruhe kund geben, daß man
ihnen ansehen muß, wie ein angebrannter Braten ober das Kaltwerden
eines Ragout ihre Fantasie viel mehr in Anspruch nimmt, als das Hin-
morden eines Unschuldigen. Dennoch können auch wir nicht umhin, uns
gegen eine solche Ausdehnung zu erklären. Auch das aufmerksamste, ästhe¬
tisch-kräftigste Auditorium wird am Ende müde durch die zu großen Massen,
die man, nur durch kleine Zwischenakte unterbrochen, auf dasselbe einströmen
läßt;*) es kann sich unmöglich in gleicher Aufregung erhalten, selbst bei einer
Vorstellung, wie wir gestern gesehen, wobei von Seiten der darstellenden
Künstler der letzte Moment mit derselben Energie durchgeführt wurde, wie
der erste, und der gestrigen Aufführung ist wo möglich noch mehr Voll¬
endung anzurühmen, als der ersten. Vor Allen Mlle. Stubenrauch
als Christine. Diese Künstlerin bedarf solcher erhabenen Poesie, um ihr
Kunstwesen in vollem Glänze leuchten zu lassen. Je mächtiger eines Dichters
Genius die Flügel rührt, je höher er sich emporschwingt, desto mächtiger hebt
sich auch ihre Künstlerseele, alle Fesseln von sich werfend, einig und unzer¬
trennlich von der Aufgabe, in die sie ohne zu zagen, das ganze Lebensblut
treten läßt. Dabei ist es bei ihr kein zu frühes Uebssprudeln, kein köpflings
Hineinwerfen in einen Theaterstrom zu Überwältigung einer staunenden
Menge; mit dem vollen Herzen geht ein scharfer Geist Hand in Hand.
Sie versteht es nicht- nur, eine Scene zur Möglichkeit einer Steigerung im
Einzelnen anzulegen, sondern eben so ein großes dramatisches Werk zu be¬
handeln. Wir mußten dieses gestern wieder in vollem Maße wahrnehmen.
Die gänzliche Auflösung in die unbezähmbare Leidenschaft eines, in allen
seinen Empfindungen tödtlich verletzten Weibes, mußte unser Mark durch¬
dringen, aber wir waren nicht unvorbereitet, wir begriffen, wie es sich so
in ihr gestalten konnte. Wir begriffen, wie die bebenden Nerven, die tobenden
Adern in dein kleinen Nathe der Schweden, die sie in Hast versammelte,
die Anklage nur mit zitternder Stimme von der Wuth kurz abgestoßen, her¬
vorbringen ließen. Ein von dem Dichter schön gehaltener Gegensatz gegen
diese Königin ist der edle Graf von Breche, ein Schwede, der das Bitterste
erträgt aus Liebe für —die Tochter Gustav Adolfs, ein Mann der Wahr-

*) Warum haben die Franzosen Geduld, einen ganzen Abend von 6 bis 11 Uhr
und oftmals noch länger im Theater zuzubringen? Allerdings gibt man gewöhn¬
lich ein kleines Stück als Vorspiel; aber die großen Dramen dauern darum
nicht minder 4 bis fünfthalb Stunden. Und vollends die Opern! Robert uud die
Hugenotten enden nicht vor Mitternacht! — Wir Deutschen rühmen uns so
gerne unseres Ernstes, unsrer tiefern Hingebung, unseres tiefern Eingehens in
ein Kunstwerk, und doch lassen wir uns hierin von den Franzosen den Rang ab¬
laufen; unsere Dichter müssen flüchtig mit ihren Charakteren die Scenen durch¬
laufen, um die ernste Nation ja nicht zu ermüden, und selbst an die erhabenen und und
theuren Dichtungen Schillers muß der Regisseur die vandalische Scheere legen
um das gestrenge tiefeingehende hingebungsvolle deutsche Publikum nicht mit Grimm
und Zorn, wegen seines verspäteten Nachtessens und aufgeschobener Schlafhau-
benkrönung, zu erfüllen. Uud dann ruft man den mordernen Dichtern zu
Shakspeare! Charakteristik!    A. d. R.
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[250/0258] um zehn Uhr. Wir unseres Theils gehören nicht zu den Menschen, die der lieben Abendstunde wegen über die Länge eines Stückes den Stab brechen, und wenn das Ende herannaht, eine solche Unruhe kund geben, daß man ihnen ansehen muß, wie ein angebrannter Braten ober das Kaltwerden eines Ragout ihre Fantasie viel mehr in Anspruch nimmt, als das Hin- morden eines Unschuldigen. Dennoch können auch wir nicht umhin, uns gegen eine solche Ausdehnung zu erklären. Auch das aufmerksamste, ästhe¬ tisch-kräftigste Auditorium wird am Ende müde durch die zu großen Massen, die man, nur durch kleine Zwischenakte unterbrochen, auf dasselbe einströmen läßt; *) es kann sich unmöglich in gleicher Aufregung erhalten, selbst bei einer Vorstellung, wie wir gestern gesehen, wobei von Seiten der darstellenden Künstler der letzte Moment mit derselben Energie durchgeführt wurde, wie der erste, und der gestrigen Aufführung ist wo möglich noch mehr Voll¬ endung anzurühmen, als der ersten. Vor Allen Mlle. Stubenrauch als Christine. Diese Künstlerin bedarf solcher erhabenen Poesie, um ihr Kunstwesen in vollem Glänze leuchten zu lassen. Je mächtiger eines Dichters Genius die Flügel rührt, je höher er sich emporschwingt, desto mächtiger hebt sich auch ihre Künstlerseele, alle Fesseln von sich werfend, einig und unzer¬ trennlich von der Aufgabe, in die sie ohne zu zagen, das ganze Lebensblut treten läßt. Dabei ist es bei ihr kein zu frühes Uebssprudeln, kein köpflings Hineinwerfen in einen Theaterstrom zu Überwältigung einer staunenden Menge; mit dem vollen Herzen geht ein scharfer Geist Hand in Hand. Sie versteht es nicht- nur, eine Scene zur Möglichkeit einer Steigerung im Einzelnen anzulegen, sondern eben so ein großes dramatisches Werk zu be¬ handeln. Wir mußten dieses gestern wieder in vollem Maße wahrnehmen. Die gänzliche Auflösung in die unbezähmbare Leidenschaft eines, in allen seinen Empfindungen tödtlich verletzten Weibes, mußte unser Mark durch¬ dringen, aber wir waren nicht unvorbereitet, wir begriffen, wie es sich so in ihr gestalten konnte. Wir begriffen, wie die bebenden Nerven, die tobenden Adern in dein kleinen Nathe der Schweden, die sie in Hast versammelte, die Anklage nur mit zitternder Stimme von der Wuth kurz abgestoßen, her¬ vorbringen ließen. Ein von dem Dichter schön gehaltener Gegensatz gegen diese Königin ist der edle Graf von Breche, ein Schwede, der das Bitterste erträgt aus Liebe für —die Tochter Gustav Adolfs, ein Mann der Wahr- *) Warum haben die Franzosen Geduld, einen ganzen Abend von 6 bis 11 Uhr und oftmals noch länger im Theater zuzubringen? Allerdings gibt man gewöhn¬ lich ein kleines Stück als Vorspiel; aber die großen Dramen dauern darum nicht minder 4 bis fünfthalb Stunden. Und vollends die Opern! Robert uud die Hugenotten enden nicht vor Mitternacht! — Wir Deutschen rühmen uns so gerne unseres Ernstes, unsrer tiefern Hingebung, unseres tiefern Eingehens in ein Kunstwerk, und doch lassen wir uns hierin von den Franzosen den Rang ab¬ laufen; unsere Dichter müssen flüchtig mit ihren Charakteren die Scenen durch¬ laufen, um die ernste Nation ja nicht zu ermüden, und selbst an die erhabenen und und theuren Dichtungen Schillers muß der Regisseur die vandalische Scheere legen um das gestrenge tiefeingehende hingebungsvolle deutsche Publikum nicht mit Grimm und Zorn, wegen seines verspäteten Nachtessens und aufgeschobener Schlafhau- benkrönung, zu erfüllen. Uud dann ruft man den mordernen Dichtern zu Shakspeare! Charakteristik! A. d. R.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/258>, abgerufen am 22.11.2024.