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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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London zum Aufenthalt sich erwählt hat, und die Klatschchronik mit willkommenen Stof¬
fen bereichert. Sophie Löwe ist vor vierzehn Tagen von hier abgereist, mit dem festen
Versprechen, wieder hieher zurückzukehren.

Es wäre überflüssig, über das Talent und die Leistungen dieser Sängerin noch ein
Wort zu melden; es ist ein Mädchen voll Geist und feinem Witz. Der österreichische
Baron R. sagte zu ihr in meiner Gegenwart: Ich wette, Sie gehen am Ende doch
wieder nach Berlin, was wollen Sie in diesem fremden London, wo Sie doch nie hei¬
misch werden, und wo Ihnen mancher Verdruß eben so wenig fehlt, als in Deutschland.
"Verdruß, antwortete die Löwe, Verdruß bleibt Verdruß, es ist das unausbleibliche Loos
eines Schauspielers, daß er sich über seine Collegen ärgert. Aber ich ziehe es vor,
mich über Lablache und die Grisi zu ärgern, als über Herrn Blum und Fräulein von
Faßmann."

Die Löwe spricht allerliebst englisch, was sonst bei den hiesigen deutschen Damen
selten der Fall ist. Man sollte überhaupt nicht glauben, welch' eine Masse von Deut¬
schen England bereisen, ohne ein Wort von der Sprache zu verstehen. Man rühmt die
Deutschen sonst mit Recht als gründlich, in dieser Beziehung sind sie aber nicht viel
besser, als die Franzosen.

Das Einzige, was sich zu ihrer Entschuldigung anführen läßt, ist, daß die deutsche
Sprache so viele vortreffliche Werke über das Nationalleben anderer Völker, und so
getreue und prächtige Uebersetzungen der fremden Literaturen besitzt. So lernt der
Deutsche in seinem Studirzimmer, hinter dem warmen Ofen, die Sitten und Lebens¬
weise anderer Völker kennen, und gewöhnt sich nicht selten an den Gedanken, daß die
Kenntniß ihrer Sprachen nicht eben sehr nothwendig sei. Und zieht es ihn nach dem
Lande seiner Sehnsucht, so schnallt er seinen Reisekoffer, und tritt die Wanderung an,
ohne sich viel zu kümmern, ob er die gehörige Summe an Worten und Redensarten
mit sich führt, um zu verstehen, oder auch nur, um sich verständlich zu machen *).

So wurde vor wenigen Tagen ein junger preußischer Arzt, Herr Doctor Helber,
bald ein Opfer seiner Unkenntniß. Es ist einer der Unglücklichen, der bei dem schreck¬
lichen Unfall aus der Eisenbahn, zwischen London und Brighton, verwundet wurde. Bei
dem ungeheuren Stoß der Wagen ging ihm das Seitenschloß in die Rippe, da er in
der Angst sich hinausstürzen wollte. Die Aerzte, die nicht sogleich bei der Hand waren,
konnten bei ihrer Ankunft den Halbohnmächtigen, der durch Zeichen sich nicht verständ¬
lich machen konnte, und der Sprache nicht mächtig war, nicht die gehörige Hilfe leisten;
die Verwundung hat einen ernsthaften Charakter angenommen, und das Leben des jungen
Gelehrten soll noch immer in Gefahr sein.

*) Es ist nicht so arg, als es scheint! Wir wollen doch einmal zählen, wie viele Englän¬
der und Franzosen Deutschland bereisen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, und wie
viele Deutsche Frankreich und England bereisen, ohne Englisch, oder Französisch zu ver¬
leben! D. Red.
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London zum Aufenthalt sich erwählt hat, und die Klatschchronik mit willkommenen Stof¬
fen bereichert. Sophie Löwe ist vor vierzehn Tagen von hier abgereist, mit dem festen
Versprechen, wieder hieher zurückzukehren.

Es wäre überflüssig, über das Talent und die Leistungen dieser Sängerin noch ein
Wort zu melden; es ist ein Mädchen voll Geist und feinem Witz. Der österreichische
Baron R. sagte zu ihr in meiner Gegenwart: Ich wette, Sie gehen am Ende doch
wieder nach Berlin, was wollen Sie in diesem fremden London, wo Sie doch nie hei¬
misch werden, und wo Ihnen mancher Verdruß eben so wenig fehlt, als in Deutschland.
„Verdruß, antwortete die Löwe, Verdruß bleibt Verdruß, es ist das unausbleibliche Loos
eines Schauspielers, daß er sich über seine Collegen ärgert. Aber ich ziehe es vor,
mich über Lablache und die Grisi zu ärgern, als über Herrn Blum und Fräulein von
Faßmann.“

Die Löwe spricht allerliebst englisch, was sonst bei den hiesigen deutschen Damen
selten der Fall ist. Man sollte überhaupt nicht glauben, welch' eine Masse von Deut¬
schen England bereisen, ohne ein Wort von der Sprache zu verstehen. Man rühmt die
Deutschen sonst mit Recht als gründlich, in dieser Beziehung sind sie aber nicht viel
besser, als die Franzosen.

Das Einzige, was sich zu ihrer Entschuldigung anführen läßt, ist, daß die deutsche
Sprache so viele vortreffliche Werke über das Nationalleben anderer Völker, und so
getreue und prächtige Uebersetzungen der fremden Literaturen besitzt. So lernt der
Deutsche in seinem Studirzimmer, hinter dem warmen Ofen, die Sitten und Lebens¬
weise anderer Völker kennen, und gewöhnt sich nicht selten an den Gedanken, daß die
Kenntniß ihrer Sprachen nicht eben sehr nothwendig sei. Und zieht es ihn nach dem
Lande seiner Sehnsucht, so schnallt er seinen Reisekoffer, und tritt die Wanderung an,
ohne sich viel zu kümmern, ob er die gehörige Summe an Worten und Redensarten
mit sich führt, um zu verstehen, oder auch nur, um sich verständlich zu machen *).

So wurde vor wenigen Tagen ein junger preußischer Arzt, Herr Doctor Helber,
bald ein Opfer seiner Unkenntniß. Es ist einer der Unglücklichen, der bei dem schreck¬
lichen Unfall aus der Eisenbahn, zwischen London und Brighton, verwundet wurde. Bei
dem ungeheuren Stoß der Wagen ging ihm das Seitenschloß in die Rippe, da er in
der Angst sich hinausstürzen wollte. Die Aerzte, die nicht sogleich bei der Hand waren,
konnten bei ihrer Ankunft den Halbohnmächtigen, der durch Zeichen sich nicht verständ¬
lich machen konnte, und der Sprache nicht mächtig war, nicht die gehörige Hilfe leisten;
die Verwundung hat einen ernsthaften Charakter angenommen, und das Leben des jungen
Gelehrten soll noch immer in Gefahr sein.

*) Es ist nicht so arg, als es scheint! Wir wollen doch einmal zählen, wie viele Englän¬
der und Franzosen Deutschland bereisen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, und wie
viele Deutsche Frankreich und England bereisen, ohne Englisch, oder Französisch zu ver¬
leben! D. Red.
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[61/0069] London zum Aufenthalt sich erwählt hat, und die Klatschchronik mit willkommenen Stof¬ fen bereichert. Sophie Löwe ist vor vierzehn Tagen von hier abgereist, mit dem festen Versprechen, wieder hieher zurückzukehren. Es wäre überflüssig, über das Talent und die Leistungen dieser Sängerin noch ein Wort zu melden; es ist ein Mädchen voll Geist und feinem Witz. Der österreichische Baron R. sagte zu ihr in meiner Gegenwart: Ich wette, Sie gehen am Ende doch wieder nach Berlin, was wollen Sie in diesem fremden London, wo Sie doch nie hei¬ misch werden, und wo Ihnen mancher Verdruß eben so wenig fehlt, als in Deutschland. „Verdruß, antwortete die Löwe, Verdruß bleibt Verdruß, es ist das unausbleibliche Loos eines Schauspielers, daß er sich über seine Collegen ärgert. Aber ich ziehe es vor, mich über Lablache und die Grisi zu ärgern, als über Herrn Blum und Fräulein von Faßmann.“ Die Löwe spricht allerliebst englisch, was sonst bei den hiesigen deutschen Damen selten der Fall ist. Man sollte überhaupt nicht glauben, welch' eine Masse von Deut¬ schen England bereisen, ohne ein Wort von der Sprache zu verstehen. Man rühmt die Deutschen sonst mit Recht als gründlich, in dieser Beziehung sind sie aber nicht viel besser, als die Franzosen. Das Einzige, was sich zu ihrer Entschuldigung anführen läßt, ist, daß die deutsche Sprache so viele vortreffliche Werke über das Nationalleben anderer Völker, und so getreue und prächtige Uebersetzungen der fremden Literaturen besitzt. So lernt der Deutsche in seinem Studirzimmer, hinter dem warmen Ofen, die Sitten und Lebens¬ weise anderer Völker kennen, und gewöhnt sich nicht selten an den Gedanken, daß die Kenntniß ihrer Sprachen nicht eben sehr nothwendig sei. Und zieht es ihn nach dem Lande seiner Sehnsucht, so schnallt er seinen Reisekoffer, und tritt die Wanderung an, ohne sich viel zu kümmern, ob er die gehörige Summe an Worten und Redensarten mit sich führt, um zu verstehen, oder auch nur, um sich verständlich zu machen *). So wurde vor wenigen Tagen ein junger preußischer Arzt, Herr Doctor Helber, bald ein Opfer seiner Unkenntniß. Es ist einer der Unglücklichen, der bei dem schreck¬ lichen Unfall aus der Eisenbahn, zwischen London und Brighton, verwundet wurde. Bei dem ungeheuren Stoß der Wagen ging ihm das Seitenschloß in die Rippe, da er in der Angst sich hinausstürzen wollte. Die Aerzte, die nicht sogleich bei der Hand waren, konnten bei ihrer Ankunft den Halbohnmächtigen, der durch Zeichen sich nicht verständ¬ lich machen konnte, und der Sprache nicht mächtig war, nicht die gehörige Hilfe leisten; die Verwundung hat einen ernsthaften Charakter angenommen, und das Leben des jungen Gelehrten soll noch immer in Gefahr sein. *) Es ist nicht so arg, als es scheint! Wir wollen doch einmal zählen, wie viele Englän¬ der und Franzosen Deutschland bereisen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, und wie viele Deutsche Frankreich und England bereisen, ohne Englisch, oder Französisch zu ver¬ leben! D. Red. 9

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

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Art der Texterfassung: OCR.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/69>, abgerufen am 22.11.2024.