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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium.
lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin- und Herschwanken
des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei-
nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten,
und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner
Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet.

In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer
Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation
oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor
dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten.
Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen
Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken
für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird.
Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge-
stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende
gesteigerten Raserei.

§. 61.

Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre-
sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften
Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen
Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen
und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald
mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und
so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten
werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen
Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige
Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf-
tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun-
gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen
Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes-
krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen -- es gibt ein melan-
cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn-
ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein
blödsinniges Fieberdelirium.

Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein
durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter,
durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich
unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen
nach -- nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei-
ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen
-- und in Bezug auf ihre Ursachen -- sympathische Reizung von
andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol-
missbrauch u. dergl. -- dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran-

Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium.
lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin- und Herschwanken
des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei-
nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten,
und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner
Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet.

In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer
Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation
oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor
dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten.
Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen
Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken
für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird.
Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge-
stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende
gesteigerten Raserei.

§. 61.

Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre-
sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften
Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen
Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen
und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald
mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und
so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten
werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen
Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige
Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf-
tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun-
gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen
Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes-
krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen — es gibt ein melan-
cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn-
ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein
blödsinniges Fieberdelirium.

Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein
durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter,
durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich
unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen
nach — nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei-
ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen
— und in Bezug auf ihre Ursachen — sympathische Reizung von
andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol-
missbrauch u. dergl. — dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran-

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[93/0107] Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium. lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin- und Herschwanken des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei- nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten, und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet. In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten. Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird. Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge- stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende gesteigerten Raserei. §. 61. Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre- sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf- tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun- gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes- krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen — es gibt ein melan- cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn- ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein blödsinniges Fieberdelirium. Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter, durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen nach — nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei- ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen — und in Bezug auf ihre Ursachen — sympathische Reizung von andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol- missbrauch u. dergl. — dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/107>, abgerufen am 24.11.2024.