Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.und über die Anamnese. sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichenoder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen, begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti- sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja schon bei früheren Generationen -- Familienanlage -- anfangen, die körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver- folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält- niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi- duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick- sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög- lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben, nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor- bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be- deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um alle in demselben liegenden Ressourcen zur Unterstützung einer activen Therapie benützen zu können. Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger Griesinger, psych. Krankhtn. 7
und über die Anamnese. sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichenoder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen, begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti- sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja schon bei früheren Generationen — Familienanlage — anfangen, die körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver- folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält- niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi- duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick- sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög- lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben, nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor- bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be- deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um alle in demselben liegenden Ressourçen zur Unterstützung einer activen Therapie benützen zu können. Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger Griesinger, psych. Krankhtn. 7
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und über die Anamnese.
sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichen
oder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen,
begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo
der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher
vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti-
sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen
Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja
schon bei früheren Generationen — Familienanlage — anfangen, die
körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die
Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver-
folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält-
niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre
Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi-
duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick-
sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und
einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer
Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine
Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög-
lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu
fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben,
nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar
ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor-
bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit
ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be-
deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen
bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur
Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche
einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um
alle in demselben liegenden Ressourçen zur Unterstützung einer activen
Therapie benützen zu können.
Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger
irrig als richtig, fast immer wenigstens einseitig. Von Laien und Aerzten werden
auch Symptome des beginnenden, sogar zuweilen des schon weit gediehenen Irre-
seins für Ursachen gehalten. Im Beginn der psychischen Erkrankung kann z. B.
— symptomatisch — ein lebhafter Hang zu spirituösen Getränken oder ein stärkerer
Geschlechtsreiz, der zu Excessen oder Onanie führt, auftreten; es kann die schon
vorhandene Gemüthsaufregung zu übereilten Verbindungen, zu gewagten Geschäfts-
Unternehmungen, zu religiösen Anfechtungen und Betrachtungen Anlass geben,
und man begeht dann oft den Fehler, die Krankheit der Trunksucht, der unglück-
lichen Liebe, den missglückten Speculationen, der Religion etc. zuzuschreiben.
So kommt es auch sehr oft vor, dass von den Umgebungen oder unkundigen
Aerzten ein Irresein als frisch entstanden betrachtet und gewissen neuerlichen
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